Rachmann, Tom
vorbeifährt, verdreht Ruby den Hals, um die Basilika
so lange wie irgend möglich sehen zu können.
Ruby wohnt in einem Neubau mit
Blick auf den Flohmarkt an der Porta Portese und das Tierheim. Von da kommt
Gebell ohne Ende, weshalb sie nie die Fenster aufmacht. Anfangs, als sie
gerade nach Rom gezogen war, hatte sie oft Besuch von Freunden aus Amerika
gehabt. Aber das hatte jedes Mal Spannungen gegeben. Liegt eben an der Wohnung,
die ist ja geschnitten wie diese Apartments in New York direkt neben der Bahn,
die Zimmer gehen alle ineinander über. Jetzt gerade fliegt überall schmutzige
Wäsche rum - verhakte Korsagen, T-Shirts in Übergröße, Haarspangen in
Bananenform. In der Küche dasselbe Durcheinander, zerfetzte
Muffin-Verpackungen, leere Milchflaschen, zerknautschte Alufolie,
Einkaufstüten. Seit Jahren kam hier niemand mehr zu Besuch, wozu also aufräumen?
Sie zieht die Bürosachen aus
und ihr Fordham-Sweatshirt an, macht den Kühlschrank auf und gähnt in das weiße
Licht. Sie reißt eine Dose Heineken auf, trinkt sie vor dem offenen Kühlschrank
aus, und mit der Dose wird auch ihr Hirn leerer. Werden die scharfen Kanten
dieses Tages runder.
Sie sucht die
Kühlschrankfächer ab: ein Glas schwarze Oliven, No-Name-Ketchup,
Käsescheibletten. Essen oder schlafen - die ewige Preisfrage nach
Spätschichten. Sie rückt dem Dilemma wie üblich zu Leibe, mit einer Schachtel
Häagen-Dazs auf dem Sofa und Tony Bennett in der Stereoanlage, leise gestellt.
Die CD war mal gratis einer Illustrierten beigelegt gewesen und gleich in Rubys
Feierabend-Routine integriert worden. Auch der Fernseher läuft, ohne Ton. Sie
starrt auf Ballando con le stelle, ohne wirklich hinzusehen, hört Tony Bennett,
ohne hinzuhören, isst Vanilla Swiss Almond, ohne etwas zu schmecken. Aber es
ist einfach die beste Mischung, die sie kennt.
Im stummen Fernseher läuft
eine Dokumentation über die entthronte italienische Königsfamilie. Ruby zappt
in eine Nachrichtensendung mit Aufnahmen aus Saddams Karriere, von Halabja über
Kuwait bis zum Galgen. Sie zappt zurück zur Königsfamilie.
Unten auf der Straße sind
Knaller zu hören: Jugendliche testen das Feuerwerk für morgen. Ruby legt die
Füße auf den Sofatisch, neben den Stapel Familienfotos, die sie nach der
Beerdigung ihres Vaters aus New York mitgebracht hat. Sie drapiert ein Stück
Decke über die Bilder, um sie nicht dauernd im Blick zu haben.
Sie schließt die Augen und
schüttelt den Kopf. »Lasterhöhle.« Die Redaktion da. »Sollen die mich doch
feuern.« Die schicken bestimmt eine E-Mail: Ruby, wir wollen mal mit dir reden.
»Mitarbeitergespräch.« Abmahnung. Rausschmiss wegen Anbrüllens von diesem
idiotischen Kindskopfkerl Oliver Ott. Zurück nach Queens. »War 'ne echte Erleichterung.« Im
Ernst. »Gibt keinen Grund hierzubleiben.« Dario? »Der ist kein Grund.«
Nachts um zwei ist sie
betrunken. Sie klappt ihr Handy auf, lächelt Darios Namen in der Kurzwahlliste
an. Sie sagt ihm jetzt einfach, er soll kommen, sofort. Warum denn nicht? Sie
wählt die Nummer, im Suff, dreist.
Er geht nicht dran.
Sie klappt das Handy zu und torkelt
zum Apothekenschränkchen. Sie kramt eine Flasche Eau de Toilette für Männer aus
dem Kulturbeutel, Drakkar Noir. Sie tröpfelt es sich in die Hände, atmet tief
ein und wieder aus, mit geschlossenen Augen. Reibt sachte die Handflächen aneinander
und lässt ihre Finger die Wangen hinunter und um den Hals herum gleiten, bis
sie überall Dario riecht.
Im Häagen-Dazs-Pappeimer
schmilzt noch ein Klümpchen Eis vor sich hin. Sie schlürft es aus, reißt die
letzte Dose Bier auf und dämmert vor dem Fernseher weg.
Am nächsten Morgen wird sie
von einem kreischenden Schleifen geweckt. Dann ein hoher Bohrton. Dann Gehämmer
auf Stein. Bauarbeiten? An Silvester? »Garantiert illegal.« Nicht, dass das
hier irgendwas bedeutet. Scheißitaliener. Sie verkriecht sich unter die Decke,
kann aber nicht mehr schlafen. Sie geht ins Bad und schlürft Wasser aus dem
Hahn. Die ganze Wohnung vibriert vom Krach. Mordlustig blinzelt sie durch die
Jalousie auf ein paar Bauarbeiter, die über ein kreischend lautes Radio hinwegbrüllen.
Sie findet die Plastiktüte
wieder, die sie extra für solche Gelegenheiten aufgehoben hat, reißt den
Knoten auf und prallt zurück wegen des Gestanks. Sie holt eine vergammelte
Tomate, ein uraltes Ei und eine verschimmelte Apfelsine heraus und macht das
Fenster auf. Zielt und schleudert das Ei mit Bedacht und geht in
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