Rachmann, Tom
jemand so
richtig ans Bein pinkelt, dann gibt's nichts, was das wieder einrenkt?« Sie
sieht weg, scheinbar beiläufig.
»Ich glaube nicht, nein«, sagt
er. »Ich glaube, man kann nur durch Vergessen über etwas hinwegkommen. Aber man
kann Dinge nicht >wieder einrenken<, so wie du es meinst. Glaub ich
jedenfalls nicht.«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich
hasse es.«
»Was?«
»Ich fühle mich - ich weiß
nicht - aus dem Gleichgewicht gebracht. Du bist kein rachsüchtiger Mensch wie
ich. Du müsstest doch eine Stinkwut haben.«
»Auf ihn?«
»Auf mich. Verstehst du?«
»Mich
reizt es überhaupt nicht, dich leiden zu lassen.«
»Aber
dadurch leide ich noch mehr.«
»Was
soll ich denn deiner Meinung nach tun?«
»Warum
bist du denn jetzt sauer? Wir reden doch nur.«
»Ich
bin nicht sauer. Ich weiß nur nicht, was ich tun soll.« Er räuspert sich. »Dir
ist offenbar überhaupt nicht klar, dass ich ohne dich erst recht in der Scheiße
säße. Hört sich kitschig an - entschuldige. Ich wollte nur sagen, ganz ehrlich,
selbst wenn du noch schlimmere Sachen anstellst, ich kann dich nicht
verstoßen. Ich kann's nicht. Von dir verletzt zu werden, heißt für mich nur,
noch mehr Trost zu brauchen. Trost von dir. Dürfte ich eigentlich gar nicht
zugeben. Aber ...«
»Schon
in Ordnung.«
Ist es nicht. Er hätte die
Klappe halten sollen. Sie entgleitet ihm, mit jedem Wort des Verzeihens, das
er ihr aufdrängt. »Ich bin einundvierzig«, sagt er, »ich lebe in einem Land,
dessen Sprache ich nicht kann, in das ich ohne dich nicht mal entfernt passen
würde und in dem meine Kollegen mich für eine Art Duckmäuser halten.«
»Tun sie nicht.«
»Doch. Schau mal, ich bin Kathleens
Scherge. Sie befiehlt, und ich springe. Und ich habe gar keine Alternative.
Denn dass ich eines Tages groß rauskomme mit irgendeiner Erfindung und aus dem
Journalismus aussteige, das kannst du vergessen.«
»Es könnte aber passieren.«
»Nein. Ich habe keine Alternative
zu diesem Leben. Ohne dich bin ich - du hast mich erlebt, Annika. Ich habe dir
erzählt, wie ich vor dir war. Deswegen mache ich mir Sorgen, und wenn ich
ehrlich bin, ist mir ganz flau.«
»Wovor denn?«
»Vor dir war ich fast zehn
Jahre lang allein.«
»Weiß ich. Das weiß ich alles.
Aber ...« Sie hält inne. »Man kann doch nicht mit jemandem zusammen sein, bloß
weil man mit dem Alleinsein nicht umgehen kann.«
»Nein? Ist das nicht der beste
Grund, mit jemandem zusammen zu sein? Dafür würde ich alles aushalten. Ich
meine, guck mal, ich bin in meinem Leben noch nie so gedemütigt worden wie
durch diese Geschichte mit dir. Hast du gewusst, dass er diese Mail an meine
ganze Redaktion geschickt hat?«
Sie erstarrt. »Was?«
»Im Ernst.«
Sie schlägt die Hand vor den
Mund. »Das hast du mir gar nicht erzählt.«
»Und es hing ein Foto dran.
Von dir. Auf unserem Bett.« Sie wird kreidebleich.
»Ich mache keine Witze«, sagt
er. »Jeder hat es gekriegt.«
Sie schließt die Augen und
schüttelt den Kopf. »Ich möchte tot sein.«
»Schon in Ordnung«, sagt er.
»Ist schon in Ordnung. Schau, was ich sagen will, diese ganze Geschichte ist
von Anfang bis Ende zum Kotzen, aber weil, ich weiß auch nicht. Entschuldige,
meine Gefühle gehen gerade mit mir durch. Lach mich aus, aber so sehe ich die
Sache. Egal, lassen wir's.« Er berührt ihre Wange. »Danke dir, dass du mit mir
nach Italien gekommen bist«, sagt er. Er küsst sie. »Bist du runtergekommen,
weil du mich verlassen willst?«
Sie schweigt.
»Du kannst mich verlassen.«
»Ich«, fängt sie an, »ich kann
das nicht ertragen, dass ich dich gedemütigt habe.« Sie kriegt die Worte kaum
heraus, aber sie sagt sie noch einmal. »Ich kann das nicht ertragen. Wenn du
bloß irgendwas tun würdest. Wenn du doch so mies wärst wie ich.«
»Was redest du denn?«
»Ich könnte dir also alles
antun? Du würdest wirklich alles hinnehmen?«
»Ich habe keine Wahl.«
»Zähle ich hier überhaupt
irgendwas?« Ihre Stimme flattert, sie hat sich nicht mehr unter Kontrolle. »Ich
meine, bitte - sei wütend auf mich. Gib mir das Gefühl, dass es hier auch um
mich geht, dass ich nicht bloß irgendein hergelaufenes Mädchen bin, das
gefälligst dafür zu sorgen hat, dass dein neues Leben im Ausland nicht allzu
einsam wird.« Sie ringt sich die Worte ab. »Ich will nicht, dass du denkst, ich
hab das nur getan, um dich zu demütigen, wenn das geht. Es war mein Egoismus.
Meine Dämlichkeit, meine Idiotie, meine kleinkarierte
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