Rachmann, Tom
Rotes Kreuz rechnet mit
Tausenden Toten«; »Mandela vor Wahlsieg in Südafrika«; »Selbstmord: Grunge-Rocker
Cobain wird Ikone«; »Der Kalte Krieg ist aus, ein heißer fängt an«. Letzteres
ist eben der Seite-eins-Artikel von Lloyd Burko, dem Pariser Korrespondenten
der Zeitung, der als Reporter von der Belagerung Sarajevos berichtet hatte
und die Gemetzel in Jugoslawien mit den aktuellen Massakern in Ruanda
vergleicht.
Ornella
ruft ihren ältesten Sohn Dario an und beschwert sich über Marta. »Sie hat
vergessen, mir die Zeitung von morgen herunterzuholen«, sagt sie. »Was soll ich
jetzt machen?«
»Kommst du
da nicht selbst dran?«
Ornella
schlenkert die Arme mit den klimpernden Juwelen, als wollte sie die Luft
zerhacken. »Nein, komme ich nicht. Das weißt du doch.« Was, wenn sie dabei aus
Versehen eine Schlagzeile von 1996 oder 2002 liest? Sie
bittet Dario nicht explizit zu kommen, stattdessen schildert sie ihm ihr
Problem so lange, bis er gar nicht anders kann.
Als er da
ist, zieht sie die Tür auf und weicht leicht nach hinten aus, um einem
möglichen Kuss zu entgehen, aber Dario macht gar keine Anstalten. Der
sechsjährige Massimiliano trödelt herein. »Ach, du bist mitgekommen, Massi.«
Ornella tätschelt ihrem Enkel den Kopf, als wäre er ein Spaniel, ein
sympathischer zwar, aber eben ein Spaniel.
Dario
klappt die Leiter auf. Sie beobachtet, wie sich die Sehnen an seinen
Handgelenken spannen, als er sie festhält und in Position stellt - am liebsten
würde sie seinen Arm packen und ihn aufhalten. Sie hält den 24. April 1994 nicht aus.
Niemand außer ihr scheint sich an den Tag zu erinnern. Sie sagt leise: »Warte,
warte.«
Er dreht
sich um: »Worauf?«
»Soll ich
uns erst mal Kaffee kochen?«
»Für mich
nicht.«
»Und der
Junge?«, sagt sie, obwohl Massi direkt daneben steht. »Möchte er irgendetwas?«
»Frag ihn
doch selbst - Massi?«
Statt zu
antworten, geht der Junge weg.
»Komm mal
mit mir ins Wohnzimmer«, sagt Ornella, um Dario aufzuhalten. »Ich möchte dir
etwas zeigen.« Sie drückt ihm die Zeitung vom 23. April 1994 in die
Hand. »Der Artikel hier von Lloyd Burko. Der ist wirklich lesenswert.«
Dario
lächelt. »Ich glaube, ich muss dir nicht sagen, dass er nicht mehr sehr aktuell
ist.« Er blättert um. »Und, was war heute so los?«, fragt er leicht mokant und
liest ein paar Titel. »Ach, Gott, daran kann ich mich noch erinnern.«
Sie
mustert ihn: Macht er sich lustig über sie? Er hält mich für dämlich. Na ja,
das bin ich ja auch, denkt sie, glühend vor Zorn über die Kränkung. Er sieht
sie an, will etwas sagen, aber sie verschiebt ihren Blick haarscharf über seine
Augen, als studierte sie gerade die Falten auf seiner Stirn.
»Massi!«,
ruft sie plötzlich. »Wo bist du eigentlich?«
Massi ist
im ganzen Zimmer verteilt, in Gestalt gerahmter Fotos. Porträts von ihm und
Ornellas drei anderen Enkelkindern stehen auf dem Tisch, auf dem Kaminsims, in
der Kristallvitrine. Das ist merkwürdig, denn vor leibhaftigen Kleinen zuckt
sie immer zurück - wenn man ihr ein Baby reicht, hält sie es wie einen
glitschigen Oktopus. Aber nicht auf allen Fotos sind Kinder. Ein paar zeigen
Cosimo auf seinen diversen Posten in aller Welt. Er starb vor über einem Jahr,
am 17. November 2005. Auf
anderen ist Ornella selbst zu sehen, als sie noch in jeder Beziehung 11p to date war, nur
zu dünn und zu jung. (Sie war erst sechzehn, als sie Cosimo heiratete.) Sie hat
heute ein ganz anderes Gesicht, unter matter Pfirsichtönung, dazu orangeroter
Lippenstift, Eyelinerbalken um die Augen und die grüne Wimperntusche so dick
aufgetragen, dass man beim Augenzwinkern denkt, ein Frosch verhakt seine Zehen.
Die Haare sind für teures Geld gelb gefärbt und so straff zum Dutt nach hinten
gezurrt, dass die Gesichtshaut aussieht wie am Hinterkopf verknotet.
»Ich muss
Marta wohl wegschicken«, sagt sie.
»Sei nicht
albern - sie hat doch nur einmal vergessen, dir die Zeitung runterzuholen. Ich
mach das schon.«
»Nein,
nein! Halt, warte mal. Das hat keine Eile.«
»Aber
dafür bin ich doch extra gekommen?«
»Ja,
schon, aber ich weiß gar nicht, ob ich sie jetzt brauche.«
»Du kannst
Marta nicht einfach rausschmeißen.« Sein Handy meldet sich - mit dem Klingelton
eines blökenden Schafs. Ornella verzieht das Gesicht: Neumodischer Technikkram
ist in ihrem Haus nicht erlaubt. »Entschuldige«, sagt Dario und geht nach
draußen zum Fahrstuhl.
Massi
kommt wieder ins Zimmer geschlendert, in der
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