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Rachmann, Tom

Rachmann, Tom

Titel: Rachmann, Tom Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Unperfekten
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stand davon nichts in der
Zeitung, während das passiert ist? Wieso erst am Ende?« Sie wirft Marta, die
sich am Fenster nach unten wischt, einen Blick zu. Dann redet sie weiter:
»Lloyd Burko mahnt auf der Titelseite, dass die Afrikaner nicht die Einzigen
sind. Die Jugoslawen sind genauso schlimm, und die sind Europäer. Jeder bringt
jeden um. Vielleicht war es wirklich besser zu Zeiten des Kalten Kriegs. Du
siehst das wahrscheinlich anders, Marta - du warst ja mittendrin, nicht wahr? Als
Polin. Aber wenigstens war der Krieg kalt. Hör mal, hier: >Frieden ist ein
Zustand, den die Menschheit nie tolerieren wird. Gewalttätigkeit ist ein
menschlicher Instinkt<. Das steht in Lloyd Burkos Artikel. Ist das wahr? Ich
kann das nicht glauben.«
    Marta
sammelt die Putzlappen in der Wohnung zusammen, wäscht sie, wringt sie aus und
stopft sie unter die Küchenspüle. Als letzte Dienstpflicht heute trägt sie die
Trittleiter in den Flur und steigt auf den obersten Tritt, um an den Hängeboden
zu kommen. Er ist bis oben hin voll mit alten Ausgaben der Zeitung. Alle, die
Ornella schon gelesen hat, werden links abgelegt, die ungelesenen liegen
rechts. Marta greift nach der Ausgabe von morgen, dem 24. April 1994.
    »Nein!«,
kreischt Ornella und klammert sich an die Leiter. »Die will ich jetzt noch
nicht. Wenn ich die will, sage ich das selbst. Ich bin noch beim 23. April. Ich
sage dir schon, wann, Marta. Drängel nicht so, so eigenmächtig.«
    Marta
steigt wieder von der Leiter und nimmt ihre zwanzig Euro Lohn entgegen, mit
gesenktem Kopf, murmelnd. Dann hastet sie aus der Wohnung und atmet erst eine
ganze Treppe tiefer wieder aus.
    Ornella
schnüffelt durch die Wohnung, um sich zu überzeugen, dass sie nicht um ihre
zwanzig Euro geprellt worden ist: im Flur, im Schlafzimmer mit dem sich anschließenden
Bad, in Arbeitszimmer, Esszimmer, Küche, auf der Terrasse, in Gästezimmer,
Gästebad, Wohnzimmer. Marta hat alles gemacht, wie sie sollte, und das gefällt
Ornella nicht besonders.
    Sie setzt
sich wieder aufs Sofa, räuspert sich, kneift die Augen zusammen, als ob sie
nicht scharf genug sähe, und begutachtet die Titelseite vom 23. April 1994, genau die,
an der sie seit drei Wochen hängen bleibt. Sie kommt über den 23. April
einfach nicht hinaus. Der morgige Tag - der 24. April 1994 - ist zu
schwer, um ihn noch einmal auszuhalten.
    Sie hat
seit 1976 jede
Ausgabe gelesen, damals war ihr Mann Cosimo de Monterecchi als italienischer
Botschafter nach Riad versetzt worden. Er konnte ohne Beschränkungen in
Saudi-Arabien reisen. Sie als Frau dagegen saß praktisch in einer bewachten
Zone für Westeuropäer fest, während die beiden Söhne den ganzen Tag in der
internationalen Schule verbrachten. Aus Langeweile hatte sie angefangen, die
Zeitung zu lesen, eines der wenigen internationalen Presseerzeugnisse, die in
den späten Siebzigern im saudischen Königreich zugänglich waren. Und weil sie
nie gelernt hatte, wie man eine Zeitung richtig liest, las sie alles der Reihe
nach wie bei einem Buch, Spalte für Spalte, von links nach rechts, eine Seite
nach der anderen. Sie las jeden Artikel und fing keinen neuen an, bevor sie den
anderen durchhatte, wodurch sie für jede Ausgabe mehrere Tage brauchte.
Anfangs fand sie vieles verwirrend. Abends fragte sie Cosimo aus, wollte banale
Dinge wissen: »Wo ist Obervolta?« Später wurden die Fragen komplexer: »Wenn die
Chinesen und die Russen beide kommunistisch sind, wieso sind sie sich dann
nicht einig?« Bis sie schließlich wissen wollte, welche Rolle die Palästinenser
in jordanischen Angelegenheiten spielten, wieso Apartheid-Gegner untereinander
rangelten und was eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik war. Cosimo
zitierte dann manchmal ein Ereignis, bis zu dem sie noch nicht vorgedrungen
war, was ihr die Überraschung verdarb, und er bekam strikte Order, nichts
auszuplaudern, auch nicht beiläufig. So begann ihr allmähliches Wegdriften aus
der Gegenwart.
    Nach einem
Jahr Zeitunglesen lag sie sechs Monate im Rückstand. Als Cosimo und sie in den
achtziger Jahren nach Rom zurückzogen, hing sie noch in den späten Siebzigern
fest. Als die Außenwelt in den Neunzigern ankam, lernte sie gerade Präsident
Reagan kennen. Als die Flugzeuge in die Zwillingstürme krachten, sah sie dem
Zusammenbruch der Sowjetunion zu. Heute ist überall draußen Sonntag, der 18. Februar 2007. In
Ornellas Wohnung ist noch immer der 23. April 1994.
    Und das
sind heute ihre Schlagzeilen: »Massaker in Ruanda:

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