Rachmann, Tom
noch nie in der Redaktion, hatte
sich immer gehütet vor diesem Raum, in dem die ganze Welt steckt und der
seinerseits in so einem schmuddeligen einzelnen Gebäude steckt. Aber sie hat
keine Wahl - die Zeitung von morgen ist nicht auf ihrem Hängeboden, sie muss
irgendwie an die Ausgabe kommen.
»Che piano?«, fragt ein
Mann mit stark anglophonem Akzent.
»Keine
Ahnung, welcher Stock«, antwortet sie auf Englisch. »Ich suche die Zentrale
der Zeitung.«
»Kommen
Sie mit.« Er betritt mit ihr den Fahrstuhl, zieht das Gitter zu und stupst mit
dem Handknöchel auf den Knopf für den dritten Stock. Der Fahrstuhl schuckelt
nach oben.
»Arbeiten
Sie hier?«, fragt sie.
»Ja.«
»Wie
heißen Sie?«
»Arthur
Gopal.«
»Ah ja,
ich lese immer Ihre Nachrufe. Neulich hatten Sie den für Nixon.«
»Nixon ist
doch seit Ewigkeiten tot«, sagt Gopal verwirrt. »Na, wie auch immer, ich
schreibe keine Nachrufe mehr. Ich bin der Kulturchef.«
»Ein
bisschen einseitig, fand ich. Nixon hat auch manches Gute getan.«
Sie möchte
Kathleen Solson sprechen, sagt sie, und Arthur geht in den Newsroom, um die Bitte
weiterzuleiten. Ornella ist kurz versucht, hinter ihm herzugehen und sich
anzusehen, wie hier gearbeitet wird. Nein, lieber nicht: Wer seinen Appetit auf
Würstchen behalten will, soll keine Wurstfabrik besuchen.
Nach ein
paar Minuten kommt Kathleen heraus. »In letzter Zeit sehe ich alle Monterecchis
wieder. Vor ein paar Wochen ist mir Ihr Sohn übern Weg gelaufen.«
»Ja, hat
er mir erzählt.« Ornella beugt sich zögernd vor, um die jüngere Kathleen zu
umarmen, und bereut es im selben Augenblick. Die Umarmung fällt steif und
hastig aus.
Im
Fahrstuhl schweigen beide bis nach unten. Ornella ärgert sich, dass sie
Kathleen umarmt hat. Das war peinlich. War es vielleicht irgendwie illoyal
gegenüber Dario?
»Wohin
sollen wir?«
»Allzu
weit darf ich nicht weg«, sagt Kathleen.
Sie gehen
den Corso Vittorio entlang, nebenan auf der Fahrbahn verschwimmen Busse, Taxis
und röhrende Motorroller zu einer Linie. Ornella muss fast brüllen, um gehört
zu werden. »Ich lese die Zeitung noch immer andächtig, das hören Sie doch bestimmt
gern.«
»In
welchem Jahr sind Sie denn inzwischen?«
»1994. Da haben
wir uns ja zufällig auch zuletzt gesehen.«
»Ja - als
ich weggegangen bin.«
»Ich weiß
auch noch genau den Tag, an dem wir uns das letzte Mal getroffen haben - das
war im Krankenhaus, als Cosimo krank wurde, am 24. April 1994.«
Kathleens
BlackBerry klingelt. Es ist Menzies. Sie gibt ein paar Befehle und drückt aus.
»Sie waren
aber grob zu diesem Menschen«, kommentiert Ornella.
»In meinem
Job ist leider keine Zeit für Höflichkeiten.«
»Das
glaube ich nicht.« Nach einer Pause fährt sie fort: »Wissen Sie, ich überlege
ja manchmal, ob ich nicht auch gern Journalistin gewesen wäre. Nun ja, im
nächsten Leben vielleicht.«
»Haben
Sie's mal versucht?«
»Seien Sie
nicht albern.«
»Hätten
Sie doch machen können.«
»Ich habe
versucht, Dario dazu zu kriegen, aber er konnte mit Zeitungen nichts
anfangen.«
»Ich weiß
- wir waren zur selben Zeit Volontäre.«
»Was wäre
wohl aus mir geworden, wenn ich etwas so Kühnes wie Sie gemacht hätte?« Sie wirft
Kathleen einen schnellen Blick zu und guckt wieder weg. »Jetzt bin ich alt.
Achtundfünfzig. In dem Alter ist man auf dem Höhepunkt seiner Karriere, nicht
wahr?«
»Kann
sein.«
»Sie und
ich sind uns sehr ähnlich«, sagt Ornella. »Gucken Sie nicht so entsetzt. Wir
sind in vielem ganz verschieden. Aber in manch anderem ...« Sie schweigt. Eigentlich
war sie vor allem gekommen, um sich eine alte Zeitungsausgabe zu besorgen, und
erst dann, um eine alte Bekannte mal wieder zu sehen. Plötzlich verspürt sie
eine ganz andere Versuchung: Sie möchte etwas sagen. Etwas bereden, bekennen
womöglich. Dieser Frau etwas erzählen über diesen morgigen Tag, an dem
Kathleen eine Statistenrolle hatte. »Können Sie sich überhaupt noch an meinen
Mann erinnern?«
»Ich
erinnere mich sehr gut. Ich fand's übrigens traurig, zu hören, dass er
gestorben ist.«
Ornella
fällt ihr ins Wort. »Sah wahnsinnig gut aus, nicht?«
»Ja, das
stimmt.«
»War ja
auch ein Baron, obwohl er den Titel nie geführt hat. Ich weiß noch genau, als
wir uns kennenlernten, Cosimo war so distinguiert. Ich war ja damals selbst ein
ziemlich hübsches junges Ding - auch wenn Sie's nicht glauben, man kann's auf
den alten Fotos sehen.«
»Sie waren
berühmt für Ihr
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