Rachmann, Tom
Hand einen viereckigen weißen
Kasten mit Knöpfen und zwei grauen Screens, die aber nicht leuchten. Im Haus
seiner Großmutter müssen Videospiele aus bleiben.
»Komm, wir
gehen in die Küche«, sagt sie. »Und ich möchte das Ding, das du da hast, hier
nicht sehen.« Kindern muss man nur was zu essen geben, das klappt immer.
Dieses Kind hier hebt sie erst mal auf einen Stuhl. Massis Beine schlenkern in
der Luft, er kickt einen seiner Nike-Schuhe vom Fuß und entblößt eine
schmutzige, weiße Sportsocke. »Was magst du denn?«, fragt sie. »Hast du
Hunger?«
»Nicht
besonders.«
Der hier
isst kaum - hatte Dario nicht irgend so was erzählt? Dass es immer Kämpfe
gibt, damit Massi seinen Teller leer isst. »Also in meinem Haus wirst du etwas
essen«, verkündet sie und durchsucht die Schränke. »Fast alles Essen für
Erwachsene.« Sie guckt in den Kühlschrank. »Hier ist noch pastina in brodo.«.
»Nein,
danke.«
Sie
überhört das und macht die Suppe warm. Der Junge sieht seiner Großmutter zu.
Ihr Parfüm durchzieht die ganze Küche. Erst als die Brühe anfängt zu simmern,
wird es überlagert von fettem Hühnersuppenaroma. Sie dreht sich mit einem
dampfenden Holzlöffel in der Hand zu Massi. Sie streicht ihm den Pony zur
Seite. »Jetzt kannst du wieder was sehen. Aber dein Scheitel ist krumm«, sagt
sie. »Ich ziehe ihn dir gerade.«
»Nein,
danke.«
»Ich kann
das gut.« Sie beugt sich vor. Er weicht zurück.
Er starrt
auf seine Plastik-Gamebox, er hat das Nintendo DS Lite vor ein paar Wochen
bekommen. »Darf ich das anmachen?«
»Dein
Essen ist gleich fertig.«
»Ich will
aber gar nichts essen.«
Ornella
ist einen Moment lang sprachlos. Sie schaltet den Herd ab. Läuft
niedergeschmettert ins Wohnzimmer. Steht regungslos da und starrt auf die
Wohnungstür, hinter der ihr ältester Sohn in sein Handy lacht.
Dann kommt
Dario wieder herein. Er lächelt noch immer über den Wortwechsel, mit dem das
Gespräch zu Ende ging. »Wo ist Massi? Wir müssen los.«
»Ich habe
versucht, ihn zum Essen zu bewegen. Jetzt ist mir klar, was du meinst - es ist
unmöglich.«
Dario ist
verwirrt. »Wir kriegen ihn nicht weg vom Essen.«
Massi kommt
aus der Küche gehoppelt, mit einem Schuh, in sein Videospiel versunken.
»Stell das
aus«, sagt sein Vater. Der Junge hört nicht auf ihn, sondern stolpert aus der Wohnung
und ist viel zu beschäftigt, um auf Wiedersehen zu sagen.
»Auf
Wiedersehen«, sagt Ornella trotzdem.
»Ich
wollte dir noch erzählen, wen ich getroffen habe«, sagt Dario und flitzt in die
Küche, um den Schuh zu holen, den sein Sohn liegen gelassen hat. »Kathleen
Solson.« Seine frühere Freundin, sie und Dario hatten sich 1987 kennengelernt,
als beide bei der Zeitung volontiert hatten. »Sie ist wieder hier, zurück aus
Washington.«
»Und wie
ist sie so?«
»Wie
damals. Älter.«
»Ich
möchte nichts mehr davon hören.«
»Das hat
doch gar nichts mit irgendwas Aktuellem zu tun.«
»Es hat
mit der Zeitung zu tun. Es interessiert mich nicht.«
»Willst du jetzt die Zeitung von
morgen oder nicht?«
»Ich mache mir Sorgen wegen
morgen«, sagt sie mit rauer Stimme, »du kannst dich nicht mehr erinnern, oder?«
»An was?«
»Marta kommt erst Dienstag wieder.«
»Und du kannst nicht bis Dienstag
mit dem Rausschmiss warten?«
»Du verstehst mich falsch.«
Ornella
steht unten und hält die Leiter fest. Sie möchte diese Unruhe weghaben. Das ist
doch bloß ein Datum wie andere auch - und in der Zeitung von morgen steht nun
wirklich nichts über ihr Leben an diesem Tag.
Dario
steigt die Leiter hoch und sieht sich auf dem Hängeboden um. »Die ist hier
nicht.«
»Doch, ist
sie.«
Er sucht
weiter. »Sie ist hier wirklich nicht. Willst du mal selbst hoch und gucken? Die
Ausgabe fehlt, ich schwör's.«
»Ich habe
sie alle gesammelt«, beharrt sie. »Ich habe keine einzige Nummer verpasst.«
»Tut mir
leid, dann musst du wohl jetzt mal die eine verpassen. Willst du die vom 25. April 1994? Die ist
hier.«
»Nein,
will ich nicht. So weit bin ich noch nicht.«
Er steigt
wieder herunter, macht von der dritten Stufe einen Satz, landet neben ihr und
haucht ihr einen Kuss auf die Wange.
Vor lauter
Verblüffung lächelt sie verlegen, dann schubst sie ihn beiseite, fasst sich
wieder und wird wütend: »Du hättest mich fast umgerissen. Ich finde das nicht
komisch.«
Die
Strecke von Parioli, wo sie wohnt, zum Corso Vittorio, wo die Zeitung ihren
Sitz hat, legt Ornella im Taxi zurück. Sie war
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