Rachsucht
Sie! Wer hat Sie eingesperrt?«, fragte ich.
Sie versuchte verzweifelt, sich zu befreien. »Das war er. Loslassen!«
»Wo ist Jesse? War er hier?«
»Du blöde … Schnell weg! Da drin. Kenny hat eine Schaufel. Weißt du, was er damit vorhat? Raus hier. Lass mich endlich raus …«
Nun hatte sie das Hackbeil entdeckt.
»Du bist ja völlig bescheuert. Verdammte Scheiße!«
Sie holte aus und trat mir mit dem dolchartigen Absatz ihres eleganten Schuhs gegen die Brust.
Mir blieb vor Schmerz die Luft weg, und ich rutschte ein paar Stufen abwärts. Mari nutzte die Gelegenheit, um sich in den Gang zu flüchten.
Ich wollte ihr nachlaufen. Jemand hatte sie eingesperrt. Vermutlich Kenny Rudenski, und ich hatte keine Lust, an ihrer Stelle im Keller zu sitzen. Aber nach drei Stufen hörte ich den Hund in Richtung Weinkeller trippeln. Und dann roch ich es.
Es war ein schwacher Geruch, nur eine Unterströmung in der Luft, aber unverkennbar. Das war nicht das Bouquet alten Weines. Es war der Gestank von verrottendem Fleisch.
Der Chihuahua verschwand bellend und jaulend im Keller. Instinkt, Ekel, Selbsterhaltungstrieb – alles sprach dafür, so schnell wie möglich zu verschwinden. Bis auf eins. Ich hatte sie gefragt, wo Jesse war. Und sie hatte irgendwas von »da drin« gebrabbelt.
Ich packte das Hackbeil fester und stieg die Stufen hinunter.
Kaum hatte ich die Tür passiert, wurde die Luft kälter. Der Geruch war kaum fassbar, wie ein böser Traum. Ich zog den Schlüssel aus dem Schloss und versenkte ihn in meiner Tasche.
Im Weinkeller konnte ich nichts Auffälliges entdecken, aber an seinem hinteren Ende gab es eine zweite Tür. Ich schlich hinüber und warf einen Blick in den Raum. Am liebsten hätte ich mich übergeben.
Hinter der Tür befand sich ein Museum. Hier bewahrte Kenny Rudenski seine wertvollsten Sammlerstücke auf.
Diese Vitrinen waren ebenso sorgfältig arrangiert wie die oben im Wohnzimmer. Vielleicht noch liebevoller, denn diese Objekte bedeuteten Rudenski am meisten. Es war das reinste Gruselkabinett.
Eine Vorahnung hatte mir schon die Auktion von Unfallsouvenirs auf seinem Computer vermittelt. Aber diese Objekte wirklich vor mir zu haben, war eine ganz andere Sache. Selbst durch die Glasscheibe wirkten sie auf mich beängstigend. Dies war ein Schrein, ein Museum gewaltsamer Todesfälle – eine Kloake.
Mit angehaltenem Atem stolperte ich zwischen den Vitrinen umher. Auf Flachbildschirmen an den Wänden liefen Videos berühmter Flugzeugabstürze. Die DC-10 von United Airlines beim Absturz in Sioux City. Die brennende Concorde bei ihrem vergeblichen Versuch, sich nach Le Bourget zu retten. Flugschauen mit katastrophalem Ausgang: Ramstein, Paris, Lemberg. Die bizarre Ausstellung war aufgebaut wie ein gutes Museum. Ein richtiges Lernerlebnis.
Dies waren also die Früchte von Rudenskis Untergrundauktionen. Memento mori. Eine liebevoll gepflegte, widerwärtige Schatzkammer des Todes. Manche der … Objekte, wenn man sie so nennen konnte, waren Andenken an berühmte Todesfälle. Eine Vitrine war mit »Fürstin Gracia Patricia« beschriftet, eine andere mit »Buddy Holly«.
So wie er sich am Grab von Yvette Vasquez verhalten hatte, ging ich davon aus, dass seine Besessenheit auf Yvettes Tod zurückzuführen war. Mit dieser Sammlung hatte er ihr ein Denkmal gesetzt.
Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Direkt vor mir erhob sich eine Vitrine mit einem schwarzen Samtkissen, auf dem eine Reliquie ruhte. Ein Stück verkeiltes Metall mit braunen Streifen, bei denen es sich ganz klar um Blut handelte. Ihr Blut. Ich las das Schild.
Yvette Vasquez.
Für Kenny Rudenski war dies zur Verkörperung ihres Todes geworden, zum Ersatz für ihren zerschmetterten Körper. Der Beginn seiner Sammlung. Rudenski, der immer auf der Suche nach starken Emotionen war, verbarg seine geheimsten Ängste und Begierden in diesem Keller. Und sein größtes Geheimnis war, dass er ein Stück des Autos gestohlen hatte, in dem Yvette ums Leben gekommen war.
Kein Wunder, dass Mari so verzweifelt gegen die Tür gehämmert hatte. Das hier war der Kern von Kenny Rudenskis Seele: der Tod.
Und genau so roch es auch. Das konnten nicht die Vitrinen sein. Ich folgte dem Jaulen des Hundes um eine Ecke und blieb stehen.
Der Chihuahua kläffte ein Paket an. Immer wieder sprang er mit gesträubten Nackenhaaren vor und zurück. Das Paket
war sorgfältig in eine Decke und Müllsäcke gewickelt und mit Isolierband verschnürt. Ein
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