Rachsucht
Fliesen. Dem Geräusch nach waren das zwei Paar Beine. Dann hörte ich leise Stimmen. Eine davon gehörte einem Mann.
Ich war beunruhigt. Lautlos trat ich vom Geländer zurück und lauschte. Thea wurde kurz unruhig, schmiegte ihr weiches Gesichtchen jedoch gleich wieder an meine Brust.
Das war nicht die Organistin. Vielleicht waren es Touristen oder Gläubige, die hier in aller Ruhe beten wollten. Ich verhielt mich ganz still und lauschte. Die Schritte näherten sich jetzt der Treppe zur Galerie. Für einen Augenblick fragte ich mich, ob ich unter Verfolgungswahn litt, aber dann rief ich mir ins Gedächtnis, dass es tatsächlich Menschen gab, die mich als Zielscheibe auserkoren hatten.
Zeit, nach Hause zu gehen.
Ich war schon halb auf dem Treppenabsatz, als ich unten auf der Treppe Schritte und flüsternde Stimmen hörte. Dann klapperte ein drittes Paar Absätze beschwingt über den Boden.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine muntere Frauenstimme. »Ich bin die Organistin. Tut mir leid, aber die Galerie ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.«
Ihre Worte endeten in einem beängstigenden Laut, einem panischen, animalischen Stöhnen. Ich hörte einen dumpfen Schlag. Dann polterte es. Vermutlich hatte die Organistin ihre Bücher fallen lassen. Ich wich von der Treppe zurück.
»Das ist sie nicht«, murmelte ein Mann in der Dämmerung unter mir.
»Mist!« Eine Frauenstimme.
»Du bist vielleicht blöd! Sie hat doch gesagt, sie ist die Organistin. Was sollte das mit dem Schocker?«
»Lass mich bloß in Ruhe. Die Delaney muss auf der Galerie sein.«
Win Utley und Cherry Lopez. Viel zu schnell kamen die
beiden die Treppe herauf. Mein Herz raste. Sie hatten es auf mich abgesehen. Yagos Vierundzwanzig-Stunden-Ultimatum war verstrichen, und jetzt sollte ich die Zeche zahlen … Ich wirbelte herum. Auf der Chorgalerie konnte ich mich nicht verstecken, hier gab es nur ein niedriges Geländer hoch über dem Steinboden der Kirche. Und ich hatte Nikkis Tochter auf dem Arm.
»Wie lange dauert es, bis das Ding wieder geladen ist?«, keuchte Utley.
»Längst passiert. Mach schon, du wirst ja immer langsamer.«
Verzweifelt schaute ich mich um. Was tun? Tollkühn an den beiden vorbei die Treppe hinunterstürmen? Was, wenn Cherry mit dem Elektroschocker Thea erwischte? Das kam nicht infrage.
Ich musste mich wohl ergeben. Vielleicht durfte ich Thea erst nach Hause bringen, bevor sie sich mit mir befassten.
»Wie viel Volt hat das Ding noch mal?«, fragte Utley.
»Dreihunderttausend.«
»Da hüpft ein Chihuahua wie Popcorn. Was meinst du, was er bei einem Baby anrichtet?« Er kicherte.
Panisch drückte ich Thea an meine Brust. Der Weg nach unten war mir versperrt, aber fliehen musste ich. Nur wohin? Die steile, enge Treppe führte weiter nach oben in den Turm. Unter mir hörte ich keuchende Atemzüge. Gleich mussten sie mich entdecken. Mir blieb keine Wahl.
Thea fest an mich gepresst, hastete ich die Stufen hinauf und an den Glocken in den offenen Bogen vorbei. Die Treppe schraubte sich in immer neuen Windungen in die Höhe, sodass mir die sinkende Sonne nun direkt in die Augen schien. Ich blickte in die Wipfel hundertjähriger Palmen,
und der Wind heulte durch die Bogen. Obwohl sie vergittert waren, fühlte ich mich schutzlos den Elementen preisgegeben.
Ich horchte. Die beiden folgten mir in immer gleichem Abstand. Solange ich das Tempo hielt und direkt über ihnen blieb, konnten sie mich nicht sehen. Sie würden mich auf der Chorgalerie vermuten. Während sie dort nach mir suchten, würde ich schnell an ihnen vorbei nach unten rennen und mich in Sicherheit bringen.
Noch eine Windung, dann hatte ich die Spitze des Glockenturms erklommen. Hier befand sich ein kleiner Treppenabsatz mit einer Tür, die auf das Kirchendach hinausführte. Ich drückte mich flach an die Wand.
Von unten drang Utleys Stimme herauf. »Du durchsuchst die Chorgalerie. Ich warte hier auf dem Treppenabsatz.«
Das durfte doch nicht wahr sein! Damit versperrte er mir den Weg nach unten.
Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis Cherry Lopez zurückkehrte. »Da ist sie nicht.«
Sucht unten, bitte sucht unten!
»Ist sie irgendwie an uns vorbeigekommen?«, fragte Utley.
»Ausgeschlossen. Die Sportkarre steht vor der Tür zur Treppe.«
Eine entsetzliche Pause trat ein. Ich wusste, dass die beiden nach oben spähten.
Ich durfte nicht zulassen, dass sie mich auf diesem schmalen Treppenabsatz erwischten. Vor allem nicht, wenn ich beide
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