Radau im Reihenhaus
wird die Erde vielleicht von intelligenten Wesen bevölkert sein, die sich empört gegen die Theorie verwahren werden, sie stammen vom Menschen ab.«
Ich musterte ihn kurz vom unrasierten Kinn bis zu den karierten Socken. »Sollte man jemals Ihre mumifizierten Überreste ausgraben, könnte ich die Empörung unserer Nachkommen sogar verstehen.«
Zwei Stunden später trafen wir uns alle beim Schneeschippen wieder, jener Tätigkeit, die neben Ofenheizen die regelmäßigste Beschäftigung während der Wintermonate war. Zwar hat sich die Sonnenenergie bisher nirgends so gut durchgesetzt wie beim Schneeräumen, aber nachts bleibt sie ja wirkungslos.
Ich mußte auch mit ran! In seiner nun schon zur Regel gewordenen Hilfsbereitschaft fegte Rolf Frau Gundloffs Straßenabschnitt. Die Ärmste war so stark erkältet und Bärchen mal wieder nicht da.
Seitdem er seinen zwar verantwortungsvollen, aber ziemlich brotlosen Job beim Wuppertaler Stadtorchester aufgegeben und gegen den eines Schlagzeugers bei einer Tanzkapelle eingetauscht hatte, war er fast jeden Abend abwesend und Isabell allein. Eine Zeitlang hatte sie bei Brauer Trost gesucht (und gefunden), aber seine streng wissenschaftlichen Vorträge über Schneckenzucht waren wohl doch nicht so ganz das gewesen, was sich Isabell unter dem gewünschten Zeitvertreib vorgestellt hatte. Dann hatte Brauer ihr sogar seine Studienobjekte vorgeführt, und danach war es mit Isabells Begeisterung für den ›unwahrscheinlich interessanten Mann‹ ausgewesen. Seidenrockwehend hatte sie bei uns Sturm geklingelt.
»Stellen Sie sich vor, der Doktor hat den ganzen Keller voller Schnecken!! Überall kriechen die herum, direkt widerwärtig! Wenn die mal ausbrechen…«
»Dann werfen Sie sie am besten in den Kochtopf!« hatte Rolf gesagt. Neuerdings tauchte Isabell auch dann bei uns auf, wenn Bärchen zu Hause war, was unschwer an den musikalischen Darbietungen zu erkennen war, mit denen wir manchmal stundenlang überschüttet wurden. Die Zwischenwand war ziemlich dünn und Bärchens Ausdauer bemerkenswert. Anfangs glaubte ich, er würde lediglich seine Geige stimmen, und bemühte mich, das merkwürdige Gekratze zu überhören. Dann hoffte ich, es würde sich nur um Fingerübungen handeln, die ja selten sehr melodisch klingen. Schon damals, als ich die mir von meiner Großmutter aufgebrummten Klavierstunden nehmen mußte, hatte ich mit meinen Fingerübungen alle halbwegs musikalischen Familienmitglieder in die Flucht geschlagen. Aber dann erzählte uns Isabell, daß Bärchen an einem Oratorium arbeitete, einem modernen selbstverständlich, womit sich weitere Erklärungen erübrigten. Offenbar komponierte er gleichzeitig den Klavierpart, denn manchmal vermischten sich die Geigentöne mit Klavierakkorden. Es war aber auch möglich, daß Isabell lediglich versuchte, das Violingewimmer zu übertönen, denn eine Komposition setzt doch wohl voraus, daß alle Instrumente mehr oder weniger harmonisch zusammenklingen. Aber von moderner Musik verstehe ich ja nichts, und Stockhausen ist bekanntlich auch angefeindet worden, bevor man seine Werke als Kunst erkannte.
So ertrugen wir das bisher noch unentdeckte Genie, bis Isabell es eines Tages hinauswarf – ob aus musikalischen oder anderen Gründen, blieb ungeklärt. Zuerst flogen zwei Koffer auf die Straße, dann der Geigenkasten, ihm folgte ein Schlafanzug und zuletzt Bärchen. Er sammelte seine Habseligkeiten zusammen und entschwand für immer. Seitdem lese ich gewissenhaft alle Berichte über die Schwetzinger Festspiele und ähnliche Veranstaltungen, die sich der experimentellen Musik verschrieben haben, aber bisher habe ich seinen Namen noch nirgends gefunden. Es soll jedoch auch Komponisten geben, die aus naheliegenden Gründen ein Pseudonym verwenden!
Nichts gegen die moderne Musik, bloß warum mußte sie ausgerechnet zu unserer Zeit kommen?
Sechstes Kapitel
Weihnachten sollten wir in diesem Jahr bei Omi verbringen. Normalerweise war sie sonst wenige Tage vor dem Fest zu uns gekommen, aber diesmal schob sie Rheuma vor oder Hexenschuß (es kann auch ein anderes bewegungshemmendes Leiden gewesen sein, so genau weiß ich das nicht mehr) und befahl uns zum Familientreffen nach Braunschweig.
»Wie ich Mariechen einschätze, will sie nur den Kaffeetanten endlich ihre Enkelkinder in natura vorstellen. Bisher kennen die doch bloß Fotos«, sagte Rolf mürrisch. Er haßte Weihnachten, er haßte winterliche Autofahrten auf überfüllten Straßen (zu
Weitere Kostenlose Bücher