Radau im Reihenhaus
der höfliche Knabe. Er konnte Tante Lotti nicht ausstehen, weil sie ständig seine Tischmanieren tadelte und ihm schon seit drei Jahren die ihrer Meinung nach einzig richtige Form der Begrüßung beizubringen versuchte. »Ein wohlerzogener junger Mann macht einen Diener, wenn er jemandem die Hand reicht!«
Sven zog es vor, selbige in der Hosentasche zu vergraben, sobald Tante Lotti auftauchte. Womit auch ein weiterer Angriffspunkt, nämlich die ewig schmutzigen Hände, verborgen blieb.
Wenigstens das Zimmer gefiel Tante Lotti. Es lag direkt neben dem Bad, was für ihre schwache Blase recht angenehm war, es hatte Sonne, was wiederum der Arthritis guttat, und bei geöffneter Tür gestattete es uneingeschränkte Sicht auf alles, was sich oben und zum Teil auch unten abspielte. Nur das Deckbett war ein bißchen zu dünn.
»Tante Lotti, wir haben Hochsommer! Außerdem habe ich dir eine Rheumadecke eingezogen. Du wirst ganz bestimmt nicht frieren!«
»Liebes, ich bin an Daunen gewöhnt! Du weißt ja, mein Rheuma…«
»Also gut, dann hole ich nachher das Federbett vom Boden«, versprach ich.
»Und wenn du vielleicht noch ein Kopfkissen mitbringen würdest… Ich muß doch hoch schlafen, weil ich sonst nicht genügend Luft bekomme.«
Zwei Kissen lagen bereits auf Tante Lottis Bett, aber ich opferte auch noch mein eigenes und begnügte mich mit einem kleinen Couchkissen. Es verlor sich in dem riesigen Bezug.
Endlich nahm Tante Lotti am Mittagstisch Platz. Von der Ente bitte nur ein Stückchen Brust, ohne Haut selbstverständlich, und vielleicht zwei Löffelchen von der Füllung. Nein, keinen Rotkrautsalat, da würde der Magen rebellieren. Kartoffeln? Lieber nicht, aber ein Scheibchen Weißbrot, wenn es keine Mühe macht. Und ob sie eventuell ein paar Preiselbeeren haben könnte? »Aber das muß nicht sein, Liebes, nur bin ich es von zu Hause gewöhnt, Ente mit Preiselbeeren zu essen.«
Dessert? Ja, bitte gern, es darf ruhig ein bißchen mehr sein, Weinschaumcreme verträgt auch der empfindlichste Magen. Und zum Abschluß etwas Käse, einen milden Holländer vielleicht, wenn’s recht ist. Nur in Scheiben? Nicht ganz comme il faut, aber wir sind ja schließlich entre nous.
Das Mahl war beendet, Tante Lotti zog sich zurück. »Heute werde ich in meinem Zimmer schlafen, denn ich bin doch ziemlich erschöpft. Sollte ich zum Tee noch nicht unten sein, Liebes, dann wäre ich dir dankbar, wenn du mir ein Täßchen hinaufbringen würdest.«
Ungewohnt schweigsam hatten die Kinder das Mittagessen über sich ergehen lassen, aber kaum war Tante Lotti verschwunden, da platzte Sven heraus: »Die tickt wohl nich mehr ganz richtich?«
»Sven!!!«
»Na ja, is doch wahr! Hier is doch kein Restaurant mit’n festbezahlten Ober. Wann fährt’n die wieder ab?«
»Ich will euch mal etwas sagen, Kinder«, dozierte ich mit einiger Selbstbeherrschung. »Tante Lotti ist eine arme alte Frau, die…«
»Arm isse bestimmt!« fiel Sascha ein. »Nich mal was mitgebracht hat se uns!«
»Ich meine das nicht wörtlich. Sie hat ein recht gutes Einkommen und braucht keine Not zu leiden. Aber sie ist arm, weil sie ganz allein leben muß, kaum noch Verwandte und nur wenige Freunde hat, keine Kinder, die sie besuchen, und so freut sie sich natürlich, wenn sie mal rauskommt.«
»Aber die freut sich doch gar nich, die meckert ja bloß!«
»Weißt du, Sven, ich glaube, das merkt sie überhaupt nicht. Sie stammt aus einer sehr angesehenen und wohlhabenden Familie, hat immer Personal gehabt, und auch ihre ganzen früheren Freunde hatten alle Köchinnen und Dienstmädchen. Das war damals selbstverständlich. Nun ist sie alt geworden und kann sich nicht daran gewöhnen, daß die Zeiten sich geändert haben.«
»In der Vergangenheit zu leben hat einen gewaltigen Vorteil – es ist billiger!« bemerkte Rolf anzüglich.
»Hm«, sagte Sven und dachte scharf nach, »nu müssen wir alle Dienstmädchen spielen?«
»So schlimm wird es schon nicht werden. Aber es wäre nett von euch, wenn ihr mir ein bißchen helft. Schließlich wissen wir alle, daß Tante Lotti bald wieder abfährt.«
»Aber spinnen tut sie doch!« behauptete Sascha abschließend und rutschte vom Stuhl. »Können wir nu gehen?«
»Ja, aber bitte nach draußen! Laßt Tante Lotti erst mal schlafen!«
Die Knaben schwirrten ab. Nachdenklich zündete Rolf eine Zigarette an. »Da hast du dir ja einiges vorgenommen! Mich betrifft das Ganze weniger, weil ich mich im Notfall immer verdrücken
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