Radau im Reihenhaus
Lottis Abreisetag rot umrandet und für die darauffolgende Woche alle Auswärtstermine abgesagt. Und die Kinder maulten auch jedesmal lauter, wenn sie Tante Lottis Schal aus ihrem Zimmer, die Lesebrille von der Terrasse, die warme Decke aus dem Schlafzimmer, die Fußbank aus der Küche oder die Tabletten aus dem Bad holen sollten.
»Svennilein, du bringst doch der Tante Lotti sicher gern die Zeitschrift, die sie im Garten liegengelassen hat?«
»Ich bin doch kein Baby mehr!« Aufgebracht knallte Svennilein die Illustrierte auf den Tisch. »Ich heiße Sven, und überhaupt muß ich jetzt Hausaufgaben machen!«
»Das ist recht, man kann im Leben nie genug lernen! Aber erst holst du mir noch die Zuckerdose, nicht wahr?«
Sascha wurde übrigens nicht mehr zu Vasallendiensten herangezogen, seitdem er auf der Suche nach dem Brillenetui das Zahnputzglas mit Tante Lottis Reservegebiß entdeckt hatte. Innerhalb weniger Stunden wußte es die ganze Nachbarschaft:
»Meine Tante hat sich verprügelt, und nu hat se ihre rausgefallenen Zähne im Wasserglas. Jeden Morgen probiert se, ob se wieder anwachsen!«
Endlich packte Tante Lotti ihre Koffer, das heißt, ich packte ein, und sie packte wieder aus, weil die Handschuhe zu den Blusen kamen und die Unterwäsche in den Koffer mit Nachthemden und Morgenrock gehörte. »Irgendwie finde ich es unschicklich, ein Kleid neben die Schlüpfer zu legen.«
Hierarchie im Wäscheschrank!
Schon eine ganze Weile hatte Tante Lotti herumgedruckst, bevor sie zaghaft fragte:
»Würde es dir viel ausmachen, Liebes, wenn ich die beiden Damen heute abend zu einem Glas Wein herüberbitte? Ich bin so oft Gast in ihrem Haus gewesen, und es gehört sich einfach, diese Einladungen wenigstens einmal zu erwidern. Selbstverständlich gehen Speisen und Getränke auf meine Kosten.«
Speisen? Wieso Speisen? »Denkst du an eine Einladung zum Abendessen?«
»Aber nein, das würden sie auch gar nicht annehmen. Käsegebäck, ein paar Waffeln – na ja, eben das, was man zu einem leichten Mosel reichen kann.«
»Von mir aus lade sie ruhig ein«, sagte ich bereitwillig, denn ich würde ja hoffentlich wie weiland das erste Zimmermädchen nach dem Servieren verschwinden dürfen. Ein bißchen neugierig war ich natürlich auch.
»Ich kann mir nur nicht vorstellen, daß die beiden überhaupt kommen werden!«
Sie kamen. Und sie entpuppten sich als zwei reizende Damen, die viel ins Theater gingen, sehr belesen waren und mir sofort anboten, jederzeit bei ihnen Bücher auszuleihen.
»Die ganz Modernen werden Sie bei uns allerdings nicht finden, aber wir haben eine recht gesunde Mischung von allem, was man gemeinhin als Literatur bezeichnet.«
Sogar Rolf, der sich in seinen Bau verziehen und nur herunterkommen wollte, um die Gäste zu begrüßen, redete sich fest. Er fand in Fräulein Charlotte Ruhland endlich eine gleichgestimmte Seele, die sich für Rilke begeisterte und den »Cornet« auswendig konnte. Er selbst schaffte ihn nur zur Hälfte, aber sein Pathos hätte durchaus für den ganzen gereicht.
Es war schon weit über Tante Lottis übliche Schlafenszeit hinaus, als sich die Gäste verabschiedeten. In der Haustür drehte sich Fräulein Margarete noch einmal um:
»Den ganzen Abend bedrückt es mich schon, daß wir Ihnen seinerzeit die Tür gewiesen haben, als Sie Ihren Antrittsbesuch machen wollten. Es ist sehr unhöflich von uns gewesen, und später hat es uns auch wirklich leid getan, aber wir hatten dann nicht mehr den Mut, Sie noch einmal anzusprechen. Vielleicht haben Sie uns für verschroben oder überängstlich gehalten. Beides ist nicht richtig. Nur mußten wir, bevor wir nach Monlingen zogen, sehr viele Demütigungen einstecken – speziell von Nachbarn und einigen scheinbar hilfsbereiten Mitmenschen –, daß wir uns vorgenommen haben, nie wieder einen nachbarschaftlichen Kontakt einzugehen. Wir haben auch Freunde, nur nicht hier in der Siedlung. Bisher war uns das nur recht, aber das kann sich ja ändern. Dürfen wir Sie in den nächsten Tagen zu einer Tasse Kaffee erwarten?«
Und ob!
Weshalb Rolf sich angeboten hatte, Tante Lotti zum Bahnhof zu fahren, weiß ich nicht, wahrscheinlich wollte er ganz sicher sein, daß sie auch wirklich abreiste.
Nach einem tränenreichen Abschied und dem Versprechen, im nächsten Jahr ganz bestimmt und dann sogar für länger wiederzukommen, stieg sie ins Auto. Dann stieg sie wieder aus, weil sie Dorle gesehen hatte und ihr noch auf Wiedersehen sagen wollte.
Weitere Kostenlose Bücher