Radegunde von Thueringen
ohnehin den südlichen Weg nehmen. Durch Thüringen könnt ihr nicht reisen, dort ist Krieg!“
„Was?“ Agnes sprang auf. „Ist es … ich meine, was ist passiert?“ Sie wurde rot, offenbar wusste sie mehr, als sie hier zeigen durfte.
„Es hat einen Aufstand gegeben. Sie haben die Wachstationen überfallen und besetzt. Chlothar rüstet zum Kampf.“ Sie lächelte beinahe schadenfroh. „Er ist furchtbar in Wut.“
Agnes zitterte am ganzen Leib.
„Was ist los?“, fragte Salomé.
„Bertafrid! Ich muss ihn suchen. Er wird …“ Sie verstummte und sah Radegunde ratlos an.
Die begriff, was ihre Freundin sagen wollte. Wenn Bertafrid nach Thüringen floh, um die Kämpfe dort anzuführen, würde Agnes ihm folgen. Das bedeutete, dass sie sich von ihr trennen musste. Eine kalte Hand ergriff ihr Herz. Sollte sie auch Agnes verlieren?
Beinahe gleichzeitig stürzten die beiden aufeinander zu und fielen sich in die Arme. Agnes schluchzte. Radegunde schob sie sanft von sich. „Geh ihn zunächst suchen und finde heraus, was er vorhat. Tränen können wir später noch vergießen.“
Bis gegen Abend war Radegunde mit Waldaradas Reisevorbereitungen beschäftigt. Sie stellte eine Begleitmannschaft auf, die in Reims noch verstärkt werden sollte. Außerdem ließ sie Schreiben aufsetzen, die die junge Witwe als „hohe Person“ unter dem Schutz König Chlothars auswiesen und es ihr ermöglichten, das fränkische Reich unbehelligt zu durchqueren. Ihr Weg würde die junge Witwe von Reims über Toul und Straßburg bis nach Augsburg führen. In diesen beschwerlichen Wochen musste sie bei herbstlichem Wetter die Mosel, den Rhein und schließlich die Donau überqueren.
„Ich hoffe, ihr kommt gut voran, dann seid ihr bis zum Wintereinbruch bei deinem neuen Ehemann! Säume nicht in Reims, halte dich höchstens einen Tag auf! Wir wissen nicht, wie viel Zeit der Winter dir lässt!“, mahnte Radegunde.
Agnes tauchte nicht wieder auf. Weil sie die beiden nicht stören wollte, verbot sie sich, ihren Bruder aufzusuchen, obwohl sie vor Neugier bald platzte.
In der Nacht schlief sie kaum und lauschte auf die Geräusche draußen in Soisson. Wie immer, wenn ein Feldzug bevorstand, kam der Hof nicht zur Ruhe. Die Soldaten genossen ihre letzten freien Tage mit den Mägden und einem vollen Krug Wein. Gekreische und Gejohle wechselten sich mit dem Kläffen der Hunde ab, auf die sich die Aufregung übertrug.
Mit dem ersten Morgengrauen lief sie zur Kapelle. „Es gibt so vieles, für das ich bitten muss, Vater, höre mich an!“
Als die Sonne aufging, stand Waldaradas Schutzmannschaft bereit. Es gab einen wort- und tränenreichen Abschied. Nachdem der kleine Tross zum Tor hinaus war, atmete Radegunde auf. Endlich Zeit, um in Ruhe nachzudenken!
Sie schlug den Weg zur Halle ein, als ein markerschütternder Schrei alles, was auf den Beinen war, erstarren ließ. Agnes!
Mägde und Knechte strömten mit ihr gemeinsam in die Richtung, aus der jetzt lautes Wehklagen zu hören war. Sie hoffte stumm, dass sie sich verhört hatte, dass es nicht Agnes war, die fortwährend schrie, während ihre Füße immer schneller liefen.
Sie rannte an Bertafrids Haus vorbei in Richtung der Pferdeställe, dreier langgestreckter, hoher Hütten mit weit heruntergezogenen Schilfdächern, die leicht versetzt hintereinander standen. Neben dem zweiten Stall, halb verdeckt von dem vorderen Gebäude, befand sich die Viehtränke, ein großer Holzbottich mit angeknabberten Rändern. Dort kniete die Frau, die so herzzerreißend klagte, dass die Leute aus allen Richtungen zusammenliefen.
Es war tatsächlich Agnes, aber sie sah nicht den Grund ihrer Pein. Etwas musste hinter der Tränke …
Nein! Das konnte nicht sein! Eine unbeschreibliche Panik erfasste sie. Ihre Füße bewegten sich von selbst vorwärts, weiter, immer weiter. Ihr Verstand nahm nur noch mechanisch wahr, was ihre Augen an unerbittlichen Bildern lieferten. Sie warf sich hinter Agnes auf den Boden, in den von zahlreichen Pferdehufen zerwühlten Schlamm. Sie tastete nach dem vertrauten Körper, der dort blutig und verkrümmt unter dem Bottich lag. Sie riss seinen Kopf an sich, fuhr ihm durchs Haar, schrie ihn an: „Wach auf!“ Doch sie fand nur kalte Haut und einen Blick aus leeren Augen. Bertafrid war tot.
Später erinnert sie sich an Hände. Viele Hände, große und zarte, grobe und vorsichtige. Sie zerren sie hoch, gegen ihren Widerstand, sie reißen sie vom Bottich los, an dem sie sich mit aller
Weitere Kostenlose Bücher