Radegunde von Thueringen
war mondhell und kam nicht zur Ruhe. Radegunde starrte zum Rauchabzug unter der Decke. Die Felle, die sonst dort hingen, lagerten bereits in den Truhen neben der Tür. Die Geräusche von draußen klangen anders als sonst. Pferde schnaubten nervös, gedämpfte Rufe der Wachsoldaten und der Schrei eines Kauzes vermischten sich mit dem Knistern der Feuer.
Sie schlich nach draußen, als sie sicher war, dass die anderen schliefen. Wo war Amalafrid? Saß er noch im Haupthaus bei seinem Vater? Sie kam an mehreren Feuern vorbei, an denen die Leute schliefen, die in den Hütten keine Unterkunft gefunden hatten. Eine alte Frau fiel ihr auf, die aufrecht saß und in die Flammen starrte. Neben ihr lag ein kleiner Junge dicht an einen hellbraunen Hund geschmiegt.
„Hast du Amalafrid gesehen, den Sohn des Königs?“
Die Alte war in Gedanken versunken, es dauerte eine Weile, ehe sie reagierte. Langsam wandte sie den Kopf und Radegunde sah zwei Augen, deren Pupillen von einem weißen Film überzogen waren.
„Verzeih, ich wusste nicht …“
„Komm zu mir, Mädchen.“ Eine magere Hand streckte sich ihr entgegen. „Ich sehe zwar nichts, aber ich habe andere Sinne, die mir helfen.“
Sie zögerte. Schließlich hockte sie sich an das Feuer. Der Hund hob kurz den Kopf und schlief weiter.
Die Frau griff ihre Hand fester und fuhr mit dem knorrigen Zeigefinger die Linien in der Handfläche entlang.
„Ich suche meinen Vetter, Amalafrid. Hast du vielleicht gehört …?“
„Warte, Mädchen. Habe Geduld!“ Sie schwieg wieder und tastete in ihrer Handfläche herum.
„Was tust du da?“
„Ich sehe in dein Schicksal!“
„Und was siehst du?“
Die Alte kaute auf ihrem zahnlosen Kiefer und wandte ihr Gesicht Radegunde zu. Der Blick ihrer weißen Augen wurde unerträglich. Mit einem Ruck zog sie ihre Hand aus den krallenartigen Fingern.
„Du wirst einmal eine große Königin sein.“
„Aber wie …?“
„Und du musst Amalafrid vergessen!“
Was erzählte die Frau? War sie bei Verstand?
„Wie kannst du so etwas sagen? Niemals!“ Sie erhob sich hastig und lief davon.
Die Hölzerne Burg Skitingi
Die Burg glich einem zerwühlten Ameisenhaufen. Erheblich mehr Menschen als sonst drängten sich in den Hütten und auf dem Hof, alle versuchten mit viel Geschrei und Gezeter ihren eiligen Geschäften nachzugehen. Zwischen den Hütten wurden Schwerter geschliffen, Ziegen geschlachtet und Ausrüstungen für Krieger repariert. Frauen boten heiße Pastinaken und gekochtes Fleisch an.
Vor dem Waffenlager drängten sich Soldaten, um Lanzen, Pfeilspitzen und Schilde in Empfang zu nehmen. Halbwüchsige Kinder schleppten Holzbündel oder balancierten gefüllte Wassereimer durch die Menge. Dutzende von Feuern erwärmten die Luft zwischen den Hütten und füllten sie mit Rauch. Neben dem Haupthaus sortierte eine Gruppe Frauen Verbandstücher, legte Kräuter zurecht und rührte Salben für die Wunden der etwaigen Verletzten. Gleich daneben hatte sich ein zerlumpter Händler niedergelassen, der den Kriegern mit ununterbrochenem Singsang Amulette und andere Glücksbringer anpries.
In den Saal des Königshauses drang das Durcheinander vom Hof nur als geschäftiges Summen. Radegunde hockte am Feuer und versuchte, sich unsichtbar zu machen. Amalaberga fauchte wie eine wilde Katze und scheuchte ihre Diener von einer Ecke zur anderen. Neben den Truhen und Kleidersäcken, die an den Wänden aufgestapelt waren, fand sich kaum noch Platz zum Schlafen. Kiara war unterwegs, um in dem Gedränge auf dem Hof ihren Sidan zu suchen, und Besa hatte sich Bertafrid an die Fersen geheftet. Gewiss stromerte der Junge draußen bei den Waffenarsenalen herum, und Besa mit ihren kurzen Beinen schnaufte hinter ihm her.
Radegunde schlich zur Tür.
„Wo willst du hin?“, fragte Amalaberga sofort.
„Ich muss nach Bertafrid sehen!“, antwortete sie und fing einen neidischen Blick von Rodelinde auf, die sich ebenfalls bemühte, ihrer Mutter nicht in die Quere zu kommen.
„Wozu hast du eigentlich deine Sklavinnen?“, keifte Amalaberga. „Komm schleunigst wieder her, wenn du ihn gefunden hast! Ich möchte, dass wir zusammenbleiben!“
Sie trat aus der Hütte und sofort sank ihr der Mut. Wie sollte sie in diesem Gewirr von Menschenleibern ihren Bruder finden? Sie schlug den Weg zum Waffenlager ein. Am Eingang hörte sie eine bekannte Stimme mit gewohnt strengem Ton Befehle geben. Sie reckte erfreut den Hals. Germar!
„Wie oft soll ich es noch sagen, bei
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