Radikal führen
Entsprechend werden die Umstände des Handelns marginalisiert. Etwas, was sich in den Medien als Trend herausstellt: die immer stärkere Personalisierung von Rollenträgern der Wirtschaft. Das systemische Denken hingegen verleitet in seiner extremen Ausprägung zu einer ebenso naiven Schwächung des Einzelnen und zu einer Überdehnung des Strukturellen (»Ich bin Opfer!«, »Der Einzelne kann nichts tun!«).
Sind Manager nun Helden mit Follow-me -Aura, die mit visionärem Weitblick und strategischem Geschick das Unternehmensschiff durch die Fährnisse der Marktturbulenzen steuern? Oder sind sie lediglich Marionetten des Systems? Danach steuern sie nicht, sondern werden gesteuert – obwohl sie ihren Autonomieanspruch verzweifelt aufrechterhalten, schon allein, um hohe Gehälter zu rechtfertigen. Der empfindsame Leser wird spüren, dass hier auf einer Metaebene lebensphilosophische Großthemen in den Blick rücken.
Greifen wir auf ein Beispiel zurück, das wir zuvor schon haben anklingen lassen: Zeit. Zeit für Führung. Führungsarbeit, und sei sie administrativer Natur, braucht Zeit. Viele Einflüsse haben dazu geführt, dass sich der Zeitbedarf für Führungsaufgaben kontinuierlich erhöht hat. Und dies, ohne dass andere Ansprüche zurückgenommen wurden. Mehr noch: Auch die Ansprüche an Sachanforderungen sind gewachsen, etwa an ständige Erreichbarkeit oder Weiterbildung. Meistens ist es aber so, dass ein guter Sachbearbeiter zur Führungskraft gemacht wird und die Führungsaufgaben einfach hinzukommen, ohne dass die neue Führungskraft operativ entlastet wird. Zwar wird immer die Bedeutung der Führungsarbeit betont, den Führungskräften aber kaum die Zeit zugestanden, sich ernsthaft mit ihren Mitarbeitern zu beschäftigen. Viele Führungskräfte müssen oft auch noch »Vorarbeiter« sein, sie kämpfen um wichtige Kunden, arbeiten an Projekten, erstellen Präsentationen und versuchen, die Flut der E-Mails zu bewältigen. Dieser Spagat zwischen Teamführung und Sachkompetenz ist nicht schmerzfrei zu leisten. Manches kann man sicher optimieren, einiges besser priorisieren. Kommt aber von der Kundenseite Druck, drängt sich das Dringliche vor das Wichtige. Die Mitarbeiterführung hat dann meistens das Nachsehen.
Nimmt man die personenzentrische Perspektive ein, dann könnte man sagen: Wer wirklich will, der kann sich von Sachaufgaben befreien und Führungsaufgaben größere Bedeutung einräumen. Und das ist sicher eine vielfach zutreffende Analyse. Grund für die Zeitknappheit ist dann die Tatsache, dass manche Führungskräfte eine ausgeprägte Sozialallergie haben, sich als Sachbearbeiter gefallen und vieles lieber selbst machen. Lange bekannt: Vor die Wahl gestellt, eine Sachaufgabe zu lösen oder ein Mitarbeitergespräch zu führen, wählen drei von vier Führungskräften die Sachaufgabe. Will man das verändern, adressiert man die innere Einstellung der Führungskräfte: »Ihr müsst andere Prioritäten setzen!«
Nimmt man aber die Perspektive der Systemtheorie ein, dann sind Führungskräfte eingezwängt zwischen gestiegenen Erwartungen an Potenzialentfaltung und gleichzeitiger Ressourcenverknappung. Wie ein Altenpfleger, der heute ein Drittel seiner Arbeitszeit mit Dokumentationspflichten verbringt, so bleibt auch der Führungskraft für ihre Kernfunktion Führung immer weniger Zeit. Will man das verändern, adressiertman die Strukturen: »Wir müssen die Leute von Sachaufgaben entlasten!« (Und macht dann doch die Erfahrung, dass viele Führungskräfte weiterhin die Sachaufgaben vorziehen.)
Führen nun Menschen? Oder führen Strukturen, die am Wollen der Führungskräfte »vorbei« führen? Die Wahrheit liegt sicher nicht im Entweder-oder. Wir sind gut beraten, uns nicht in diese Alternative zwingen zu lassen. Wir können uns durchaus zwischen den Extremen hindurchschlängeln und beide Seiten anschauen. Dann kommen wir zu einem vollständigeren Bild. Führungskräfte haben also Führung (durch das System) zugleich hinzunehmen wie zu gestalten. So gelingt es vielen von ihnen, sich Freiräume zu schaffen, das Vorgegebene klug zu arrangieren und die Chancen zu nutzen, die sich ihnen bieten.
Wir entscheiden uns deshalb im Folgenden für eine Kombination von beiden Ansätzen. Weder sollen die »externen« Einflüsse der Unternehmensstruktur und ihre darin eingelagerten Normen zu großes Gewicht erhalten, noch sollen die »internen« Faktoren wie Einstellungen und Fähigkeiten der Führungskräfte
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