Radikal führen
Führungshandelns verstellt. Er verzichtet auf die naive Vorstellung, Zielabsichten ließen sich bei Mitarbeitern umstandslos in zielwirksame Handlungen umsetzen.
Der normative Vorrang des Organisatorischen vor dem Individuellen: Das ist kein Pessimismus, keine Absage an die Tatkraft und das Talent des Einzelnen, sondern eine realistische Einschätzung der Sachlage. Wie ich in einem anderen Zusammenhang schrieb: Kluge Menschen haben in dummen Organisationen keine Chance.
Fassen wir zusammen: Warum scheitern so viele Initiativen zum Change-Management, warum gelingt der Wandel nicht? Weil vorzugsweise die direkte Führung des personenzentrischen Ansatzes exekutiert wird. Zwar gehört heute der Hinweis, dass ein rein personenzentrisches Vorgehen nicht ausreicht, zum normativen Pflichtpensum der Wohlmeinenden. Tatsächlich aber passiert wenig. Das Verändern der Strukturen bleibt tabu. Warum? Weil man glaubt, Menschen seien leichter änderbar. Weil man organisatorische Entscheidungen überdenken müsste. Weil man den Spiegel wenden, sich auch selbst in Frage stellen müsste. Aber so sind es immer die anderen, die sich ändern müssen. Das Motto dazu: »Wir machen die Dusche an und stellen die anderen drunter.«
Wie kann der Wandel gelingen? Indem wir an die Wurzel gehen. Indem wir uns auf die Kernaufgaben der Führung konzentrieren. Indem wir beides anschauen: Individuum und institutionellen Rahmen.
Das will ich im Folgenden tun.
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Erste Kernaufgabe:
Zusammenarbeit organisieren
Einer für alle, alle für einen
Eine kleine Naturgeschichte
Es gibt immer »natürliche« Erklärungen für bestimmte Verhaltensweisen. Und es gibt »kultürliche«. Die natürlichen Erklärungen werden von der Biologie oder der Anthropologie bereitgestellt, die kultürlichen von den Sozialwissenschaften. Das, was hier mit »Natur« gemeint ist, ist schlicht unser biologisches Gepäck, das uns durch einige Millionen Jahre Entwicklung als Gattungswesen mitgegeben wurde. Eine mächtige Mitgift. Wir sind gut beraten, der Stimme der Biologie wenigstens zuzuhören, bis wir sie mit kultürlichen Argumenten des Zeitbedingten zum Schweigen bringen.
Fragt man Anthropologen nach dem wesentlichen Unterschied zwischen Menschen und Affen, dann ist das nicht – wie man lange glaubte – die Sprache. Es ist die partnerschaftli che Grundhaltung. Anders gewendet: Bevor der Mensch sprechen kann, kann er gemeinsam planen und handeln. »Der vermutlich bemerkenswerteste Aspekt der Evolution«, schrieb der Evolutionsbiologe Martin Nowak, »ist ihre Fähigkeit, in einer konkurrenzorientierten Welt Kooperation zu erzeugen.« Es ist unklar, warum es dazu kam (ich folge hier vor allem Michael Tomasello) und warum andere Primaten von der Evolution dafür nicht ausgestattet wurden. Denn der Mensch war naturgeschichtlich ein Selbstversorger. Er kümmerte sich nicht in der Gruppe um Nahrung, Wohnung und Fortpflanzung, sondern allein. Sein Interesse an Kooperation war gering – wie bei anderen Primaten auch. Was aber veranlasste den »cooperative turn«, die Hinwendung zu gemeinsamem Planen und Handeln? Die wahrscheinlichste Antwort lautet: dass sich irgendetwas in der Umwelt verändert hatte, was ein Vorgehen »mit vereinten Kräften« überlebensnotwendig machte. Wahrscheinlich sahen sich Menschen zur gemeinsamen Nahrungssuche gezwungen – sowohl beim Sammeln als auch beim Jagen.
Es ist also weder unsere Sprache noch unsere Denkfähigkeit, die uns entwicklungsgeschichtlich einzigartig macht, sondern unsere Fähigkeit zur Kooperation: geteilte Absicht, abgestimmte Handlungen, gemeinsame Zukunft. Wer eine gemeinsame Absicht teilt, nimmt sich Aufgaben vor, welche die eigenen Möglichkeiten übersteigen. Und zählt darauf, dass sich die anderen zum Mittun bewegen lassen – aus welchen Gründen auch immer. Diese Handlungen sind durch ein gemeinsames Ziel und verschiedene, aber allgemein anerkannte Rollen gekennzeichnet. Und allen Handelnden ist bewusst, dass ihr Erfolg von ihrem wechselseitigen Einsatz abhängt.
Als also die Menschen zu kooperieren begannen, begab man sich in wechselseitige Abhängigkeit. Dem Einzelnen war es nun wichtig (mitunter überlebenswichtig), jenen zu helfen, von denen er abhängig war. Er war sich dessen bewusst und signalisierte, dass man sich auf ihn verlassen konnte. So empfahl mansich als Partner für zukünftige Beutezüge. Dadurch begannen die Individuen, sich mit der Gruppe zu identifizieren. Sie entwickelten
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