Radikal führen
begrenzt, ihre Präferenzen schwanken. Wie Nina Hagen einst sang: »Ich kann mich gar nicht entscheiden, es ist alles so schön bunt hier!« Der Zwang, ständig Entscheidungen treffen zu müssen, noch dazu meist unter Zeitdruck, das kann überfordern. Und dieser menschenfreundlichen Ausrede entspricht die große Versuchung, beim Status quo zu bleiben. Vielen Menschen fällt es unendlich schwer, den Schwebezustand des Immer-noch-Möglichen aufzugeben. Sie leiden lieber, als dass sie handeln. Sie lassen dann ihr Leben von anderen entscheiden: von Ärzten, Pädagogen, Politikern. Oder von Führungskräften.
Entscheidbarkeit sichern
Warum gibt es Führung? Greifen wir die eingangs dieses Buches gestellte Frage noch einmal auf und formulieren sie negativ: Was fehlt, wenn Führung fehlt? Denken wir uns Führung also weg und folgen Experimenten der Sozialwissenschaften, in denen Führung versuchsweise »abgeschafft« wurde. Was passiert dann? Die Antwort ist eindeutig: Gruppen, die zusammen auf ein Problem oder ein Ziel hin orientiert sind, bilden nach kurzer Zeit wieder neue Führungsstrukturen. Man wählt sich einfach eine neue Führung. Offenbar erfüllt Führung ein Bedürfnis. Im Alltag kann man ja auch immer wieder erleben, dass in bestimmten Situationen nach »Führung« gerufen wird. Welche Situationen sind das?
Es sind Konflikte. Man will zwei Dinge, die sich aber logisch ausschließen. Oder man streitet über Ziele und Wege. Irgendetwas ist risikoreich oder widerspruchsvoll. Es stauen sich Fragen, Informationen und Probleme. Man steckt fest in einem Dilemma. Der Organisation droht die Paralyse. Dann braucht es eine Instanz, die den Stillstand verhindert beziehungsweise auflöst. Dann hat Führung ihren Auftritt. Führung muss in die Verantwortung gehen, etwas Festgefahrenes in Bewegung bringen, die Entscheidbarkeit sichern.
Ich vermeide bewusst die Formulierung »Führung muss entscheiden«. Denn es wäre natürlich wünschenswert, wenn die Organisation beziehungsweise die Mitarbeiter selbst die Entscheidung träfen (dazu komme ich noch einmal am Schluss des Buches). Soll zum Beispiel eine Entscheidung auf breiter Basis umgesetzt und nicht gegen Widerstände durchgesetzt werden, dann bietet es sich an, jene bei der Entscheidung einzubeziehen, die von der Entscheidung direkt betroffen sind. Das ist intelligent, aber langsam. Der Dialog ist daher kein Allheilmittel. In manchen Situationen ist es besser, schnell zu entscheiden und klar anzuweisen.
Das gilt nicht nur im Turnaround-Management. Nehmen wir Innovationen. Wer immer nur darauf wartet, dass die Wirtschaftlichkeit des neuen Produktes »bewiesen« ist, der wird erleben, dass der Wettbewerb schneller war. Viele Führungskräfte trauen sich jedoch nicht mehr, schnelle Top-down-Entscheidungen zu fällen. Sie halten das für unkooperativ. Doch das ist unbegründet, wenn Mitarbeiter im Regelfall dialogisch eingebunden werden. Dann tragen sie auch eine situationsgebundene Anweisung mit.
Besonders in konfliktären Situationen ist eine von allen respektierte Hierarchie notwendig. Wenn sich die Menschen nicht einigen können, muss Führung eingreifen. Etwa so, wie es Hans-Otto Schrader gesagt hat, seit 2007 an der Spitze des Versandhandelsriesen OTTO: »Wenn erstrebenswerte Zielzustände nicht im Konsens entstehen, bin ich in der Lage, sie durchzusetzen.« Wohlgemerkt: Die erste Priorität ist die Entscheidung der Mitarbeiter, die zweite gehört ihm.
Führung wird also erst dann wertvoll, wenn Routinen versagen. Ich kann es gar nicht klar genug machen: Führung hat ihren Aufgabenbereich »jenseits« der Routine, nämlich im Konflikt, in dilemmatischen Situationen. Ein Unternehmen braucht keine Führung, wenn das Unternehmen in ruhigen Gewässern segelt. Um aber Stillstand zu vermeiden, muss Führung entscheidungsbereit sein. Auf dem Schreibtisch des amerikanischen Präsidenten Truman stand ein kleines Schild mit dem Satz: »The buck stops here« – etwa: Bis hierhin kann man den Schwarzen Peter schieben, nicht weiter.
Ich will es zuspitzen: Es ist nicht so, dass, wie oft geschrieben, sich Führungskräfte bei der Bewältigung ihrer Aufgabe mit Konflikten und Dilemmata konfrontiert sehen. Vielmehr wird die Führungsaufgabe durch Konflikte überhaupt erst geschaffen. Die Wahrscheinlichkeit von Konflikten macht Führung notwendig.
Entscheidung oder Wahl?
Wenn wir fragen, warum sich Menschen mit Entscheidungen schwertun und es deshalb in Organisationen eine
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