Radikal führen
heißt, dass Sie nicht als Manager so tun sollten, als ob Sie gewusst hätten, was Sie da entscheiden. Ein Manager gilt als Entscheider. Es reicht völlig aus, dass Sie wissen, dass Sinnstiftung immer nachträglich erfolgt. Der Manager lebt von der Lizenz zur Nachträglichkeit.
Entscheidungsstärke
Führungskräfte gibt es, weil es Konflikte gibt. Konflikte als Zielkonflikte, Wertkonflikte, soziale Konflikte. Einige von ihnen müssen entschieden werden, einige können entschieden werden. Wenn die Organisation nicht vorentschieden hat und die Mitarbeiter selbst nicht entscheiden, wenn also die Gefahr der Paralyse droht, dann müssen Sie als Führungskraft »einspringen«. Sie müssen die Entscheidungsfähigkeit von Konflikten sichern.
Das ist eine klassische Schwäche vieler Leitungsgremien: Falls sich kein Konsens ergibt, wird diskutiert und diskutiert und die Entscheidung vertagt. Oft dauert es schon ewig, einen Konsens darüber herzustellen, ob es überhaupt ein Problem gibt. Von einer Entscheidung über die Einleitung von Maßnahmen ganz zu schweigen. Bei Restrukturierungsprojekten trifft man immer wieder auf Manager, denen die Probleme ihres Unternehmens schon seit Langem bekannt sind, die aber nicht entscheiden beziehungsweise keine Entscheidung durchsetzen können. Nicht wenige Führungskräfte, häufig auch die friedliebenden, entziehen sich einer Entscheidung und sehnen sich nach der Aufhebung der Gegensätze. Damit wird aber eine existenzielle Dimension der Führung verfehlt. Entscheidungen müssen fallen, wenn kein Konsens möglich ist.
Das erfordert Entscheidungsstärke – die individuelle Fähigkeit, Unsicherheit und Unklarheit zu akzeptieren und dennoch zu entscheiden. In dem Wissen, dass nicht alle Folgen vollumfänglich zu überschauen sind. Natürlich wird man sich mit Daten, Zahlen und Fakten versorgen. Und bei Entscheidungen darf man den Wert der Erfahrung nicht geringschätzen. Zwar wissen wir, dass Erfahrung auch einschränkt und häufig innovationsskeptisch ist. Aber sie erleichtert uns doch, Hypothesen aufzustellen und Wahrscheinlichkeiten zu kalkulieren. Jedoch, wie oben schon bemerkt: Zu viele Informationen machen Entscheidungen nicht leichter, sondern schwerer. Wer alles weiß, handelt nicht mehr. Wer alle Spät- und Nebenwirkungen seines Handelns überblickte, wäre gelähmt. Deshalb bedarf es eines gewissen Tunnelblicks, um handlungsfähig zu sein, einer aufgeklärten Ignoranz. Man muss auch den Mut zur Lücke haben, man muss wissen, dass sich zu jeder wissenschaftlichen Studie zig Gegenstudien finden lassen. Insofern ist jede Entscheidung eines Konflikts ein Risiko.
Vor jeder Ihrer Entscheidungen muss die Einsicht stehen, dass sich Risiken prinzipiell nicht beherrschen lassen – sonst wären sie keine. Risiken muss man eingehen und sich darauf verständigen, welches Risiko man zu welchem Preis akzeptieren will. Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadensausmaß sind zu kalkulieren. Dazu ist es zunächst hilfreich, einen Konflikt erst einmal als solchen anzuerkennen. Das scheitert oft an dem Willen, sich überhaupt auf einen Konflikt einzulassen. Der Mensch stellt sich nicht gerne komplexen Situation, Streitfällen und scheinbaren Unlösbarkeiten. Und in einem Klima der professionellen Selbstverständlichkeiten, der »schnellen« und »klaren Entscheidungen« ist es schwierig, öffentlich zu bekunden, man wisse nicht immer sofort, was zu tun ist.
Wenn keine bewährten Handlungsmuster für konfliktäre Situationen vorliegen, brauchen wir Menschen, die in die Verantwortung gehen und entscheiden. Aber was heißt hier entscheiden? Entweder-oder ist die klarste Entscheidung. Da, wo Sie sitzen, kann ich nicht sitzen (etwa bei Beförderungen) – das schließt sich aus. Mehr-oder-weniger ist die iterative Verschiebung zwischen den Polen: Einmal neigt man mehr zur einen Seite, ein anderes Mal zur anderen (etwa beim Dilemma Preisführerschaft versus Serviceführerschaft). Das ist eine akzeptable Form des Umgangs mit Konflikten. Aber sie bleibt noch auf einer geraden Linie zwischen den Polen. Oft hingegen wünschen wir uns eine andere Möglichkeit, wie sie Robert Musil als existenzielle Erfahrung in Die Schwärmer beschrieb. Das Leben, so sagt dort Regine, lasse den Menschen »immer zwischen zwei Möglichkeiten wählen, und immer fühlt er: eine ist nicht darunter, immer eine, die unerfundene dritte Möglichkeit.« Mit dem Finden einer dritten Möglichkeit ließe sich die binäre Logik des
Weitere Kostenlose Bücher