Radikal
ihn auszunutzen, und wenn er sich deswegen schlecht gefühlt hatte, dann konnte es nur kurz gewesen sein, so lange, wie es eben dauert sich einzureden, dass man manchmal für eine größere Sache eine kleinere Sache in Kauf nehmen muss, für einen größeren Verrat einen kleinen, gewissermaßen, und dann hatte er auch schon Stefans Nummer gewählt. Und, wie hat es dir gefallen?
Aber die automatische Stimme, die wahrscheinlich verkündete, dass Stefan nicht erreichbar war, sprach Tschechisch oder Slowakisch, vielleicht auch Slowenisch. Er versuchte es noch einmal, ein paar Stunden später, und dann noch einmal, einen Tag später, aber Stefans Telefon beharrte auf seiner osteuropäischen Antwort, und Samson spürte eine gewisse Erleichterung. Wahrscheinlich macht er Urlaub an der kroatischen Adria. Schön für Stefan. Nur dass Samson immer noch nicht wusste, was er stattdessen tun sollte, aber dann war ihm der bombende Kinderarzt in den Sinn gekommen. Vermutlich weil er al-Balawi in seinem Kopf irgendwo in einer Schublade mit dem Etikett »Infiltration« abgelegt hatte.
Infiltration . Das hatte er tatsächlich gesagt. Er dachte an Sumaya.
Dann würde es eben ohne Stefan gehen, hatte er beschlossen. Dafür dann umso direkter. Vielleicht war das ohnehin besser. Er musste nur hoch genug einsteigen. Wie hatte Sinn zu ihm gesagt, als er den Salon verlassen hatte? Kommen Sie wieder, wenn Sie mögen. Sie wissen alles, was wichtig ist, Sie müssen nur noch die richtigen Schlüsse ziehen!
Samson wandte sich wieder seinem Rechner zu. Einen Tag war es jetzt her, dass er Sinn geködert hatte.
Und eine Stunde, seit der Staatssekretär angebissen hatte.
Ein blaues Blinken und ein elektronisches Glucksen waren die Vorboten gewesen: eine frisch eingetroffene Chatnachricht per Skype. Sinn hatte den Umschlag offensichtlich geöffnet und die Instruktionen verstanden.
»Wer sind Sie?«, ploppte seine Nachricht auf dem Monitor auf.
»Später.«
»Was wollen Sie?«
»Später.«
»Was haben Sie mir da geschickt?«
»Das sind 47 Tarn- und dazugehörige Klarnamen von deutschen Muslimen, die nach der Ermordung von Lutfi Latif ihre Zustimmung zu diesem terroristischen Akt in Internetforen zum Ausdruck gebracht haben.«
»Warum haben Sie mir das geschickt?«
»Weil ich davon ausgehe, dass Sie etwas damit anfangen können. Schauen Sie genau hin. Dann werden Sie sehen, dass auch ein paar Funktionäre von Islamverbänden dabei sind.«
»Wo haben Sie die Namen her?«
»Tut nichts zur Sache. Aber sie stimmen alle.«
»Wer sind Sie?«
»Wir hatten schon einmal das Vergnügen. Ich war bei Ihnen zu Gast.«
»Geben Sie mir einen Hinweis.«
»Wir sprachen über Enzo Graether. Es gab Barolo und Whiskey.«
Eine kleine Pause nur.
»Was wollen Sie?«
»Ich denke, dasselbe wie Sie.«
»Und was will ich?«
»Selbstverteidigung. Die Dinge ein wenig in Bewegung bringen.«
»Wieso sollte ich Ihnen glauben?«
»Weil ich eine Menge Ideen für das Kommando habe.«
»Welches Kommando?«
»Das Kommando Karl Martell.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Sie wissen genau, wovon ich rede.«
Eine weitere Pause für Sinn. Ein weiterer Schluck Whiskey für Samson. Ich brauchte euch nur zu sagen, was ihr hören wolltet, und ihr habt mir geglaubt!
Dann blinkte und gluckste es wieder: »Wir sollten uns treffen.«
»Ja.«
»Kommen Sie übermorgen in mein Büro, irgendwann am Vormittag.«
»Glauben Sie, ich bin bescheuert?«
»Nein. Ich wollte nur sichergehen.«
»Klingt schon besser.«
»Wie wäre es übermorgen Abend?«
»Wir treffen uns heute früh um sechs Uhr dreißig in der Senator-Lounge am Flughafen Schönefeld.«
»Sie sind wirklich kein Idiot.«
»Ich nehme an, das ist ein Ja?«
»Ja.«
»Auf Wiedersehen.«
Mit einem weiteren digitalen Glucksen bestätigte das Programm, dass Sinn sich ausgeloggt hatte.
Samson schaute auf seine Uhr.
Noch drei Stunden.
Noch zwei Stunden.
Noch eine Stunde.
Umziehen.
Abfahrt.
Es war schon hell, als er an der Frankfurter Allee in die S-Bahn stieg. Als er am ausgemachten Treffpunkt eintraf, stellte er befriedigt fest, dass er einen guten Vorschlag gemacht hatte. Sinn fiel in der Lufthansa-Lounge so wenig auf wie ein Fisch in einem Aquarium. Wenn Sinn nervös war, dann zeigte es sich höchstens daran, dass er an der Snack- und Drinkbar offenbar eine Bloody Mary bestellt hatte, die sich, wie Samson mit Anerkennung registrierte, von einem unschuldigen Tomatensaft nur durch zwei kaum zu
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