Radikal
diese Informationen falsch sind und dieser Umschlag niemals geöffnet wird.
Samson las das Dokument ein zweites Mal. Als er anhob, etwas zu sagen, unterbrach Fadia Latif ihn jedoch. »Das ist noch nicht alles, Moment.«
Sie reichte ihm eine Postkarte. Nur zwei Sätze waren darauf notiert, in krakeliger Handschrift: »Ich bete, dass er damit nichts zu tun hatte. Ich kann nicht mehr. MS «
»Wer ist MS ?«, fragte Sumaya.
»Ich vermute«, antwortete Fadia Latif vorsichtig, »dass es sich um Martha Sinn handelt. Ich habe erst vor einer Stunde aus dem Radio erfahren, dass sie sich gestern das Leben genommen hat.«
Sumaya sah Samson mir angstgeweiteten Augen an.
»Ich werde«, hörte er sich plötzlich aussprechen, was seit Tagen in seinem Kopf feststand, »das Kommando Karl Martell infiltrieren. Ich weiß, wie ich Kontakt knüpfen kann. Ich hatte schon mit denen zu tun. Es ist die einzige Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden.«
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IX
Samson saß an seinem heißen Rechner auf dem Dachboden seiner Wohnung in der Schreinerstraße, unter dessen mit Dämmwolle verkleideter Decke sich die Hitze des Tages staute, obwohl es schon fast zwei Uhr am Morgen war. Er lauschte den letzten überlieferten Worten des Löwen von Khorasan, des Bezwingers der CIA , des Kinderarztes Humam al-Balawi, auch bekannt – ach was: besser bekannt – als Abu Dujana al-Khorasani, ein Mann von Mitte dreißig, dessen offenes Gesicht und funkelnde Augen zu einem arabischen Akademiker passten, zu einem, der die Dinge hinterfragt, der einen gewissen Ehrgeiz mitbringt und etwas erreichen möchte, und das hatte Abu Dujana ja auch, auf seine Art. »Es war so einfach, ich konnte es kaum glauben«, sagte der junge Jordanier in die Kamera, während er im Schneidersitz hinter einer Holzkiste saß, auf der ein paar Sprengstoffpakete drapiert waren, dazu trug er eine Sprengstoffweste, und im Hintergrund lehnten zwei Sturmgewehre an einer mit einem al-Qaida-Banner verhängten Wand. »Ich brauchte euch nur zu sagen, was ihr hören wolltet«, tönte Abu Dujana, wobei er beinahe amüsiert lächelte, »und ihr habt mir geglaubt!«
Samson hatte das Märtyrervideo des Mannes, den die CIA und der jordanische Geheimdienst monatelang für ihren Mann gehalten hatten, schon früher angeschaut, direkt nachdem es veröffentlicht worden war, Anfang 2010, wenn er sich nicht täuschte. Tatsächlich hatte al-Balawi die CIA und die Jordanier gleichermaßen zum Narren gehalten, den Geheimdienstlern vorgegaukelt, er pirsche sich in ihrem Auftrag an die al-Qaida-Führung im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet heran. Am Ende brachte er seinen jordanischen Führungsoffizier und dessen von den sensationellen neuen Erkenntnissen anscheinend besoffenen amerikanischen Führungsoffizier dazu, dass sie ihn zu einem Treffen mit einigen der besten al-Qaida-Kenner der CIA in Khost einflogen, die teilweise selbst eigens aus Langley, Virginia eingeflogen worden waren – wo al-Balawi dann, wie er es die ganze Zeit über geplant hatte, seine arglosen Gastgeber und sich selbst in die Luft sprengte.
Das Video, das Samson anschaute, war in der Nacht vor dem Anschlag aufgezeichnet worden. Die kühle Überheblichkeit, in der sich ja nur der unbedingte Glaube an die Notwendigkeit seiner Mission spiegelte, hatte Samson schon beim ersten Betrachten beeindruckt. Aber dieses Mal spürte er noch aus einem anderen Grund so etwas wie Bewunderung für den Kinderarzt, der zur lebenden Bombe geworden war: für seine Fähigkeit, diejenigen, die glaubten, dass er sich ihnen angeschlossen hatte, derart hinters Licht zu führen, monatelang. Es war so einfach, ich konnte es kaum glauben : Wenn man kurz vor dem Ziel stand, sagte man so etwas vielleicht, dachte Samson. Aber bis dahin, bis zu jenem Abend, an dem er mit einem Lächeln, das schon nicht mehr von dieser Welt war, in die Kamera sprach, musste es auch für den Löwen von Khorasan ein langer Weg gewesen sein.
Es war natürlich bizarr, dass er sich dieses Video anschaute.
Andererseits: Ihm selbst blieben nicht einmal vier Stunden, bevor er zur S-Bahn-Station laufen würde, um seinen eigenen Plan in die Tat umzusetzen. Hatte er Fadia Latif und Sumaya gegenüber wirklich das Wort infiltrieren benutzt?
Sein erster Gedanke war es gewesen, Stefan anzurufen. Stefan, dem er seinen Spitznamen verdankte. Und ein bisschen mehr als das. Seinen alten Freund Stefan. Er wollte ihn anrufen mit dem festen Vorsatz, ihn für seine Zwecke einzuspannen,
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