Radikal
einzuspannen. So kam es vor, dass er sich an einem Morgen in einem IKEA – Restaurant in Spandau zu einer Besprechung mit Peacemaker und Q einfand, bevor sie einander wenige Stunden später in der großen Runde wiedersahen. Am Tag darauf weihte ihn mittags Chevalier in der Zentrale in ein neues Vorhaben ein, am Abend gab es dann wieder eine Zusammenkunft in voller Stärke. Am Tag darauf traf er sich mittags mit Ricardo und Q in einem Einkaufszentrum in Köpenick, wo ein sympathisierender Fleischer einen Laden hatte, der wusste oder vielleicht auch nicht wusste, mit wem er weswegen befreundet war, und am Abend: alle zusammen erneut in der Zentrale. Nur nachts, wenn auch die letzte Aktion gelaufen war, war Samson allein. Doch dann ließen die Bilder ihn keinen Schlaf finden, sodass er meist erst im Morgengrauen, nass geschwitzt und erschöpft, in eine Art Dämmerzustand fand.
Und was für Bilder waren das, die ihn nicht schlafen ließen? Renatus zum Beispiel, wie er, hysterisch lachend, die riesige mit Schweineblut gefüllte Wasserpistole über dem Eingangsportal der Moschee am Columbiadamm entleerte, während Samson Schmiere stand. Oder Matthäus und Peacemaker, nach allem, was Samson ausmachen konnte, ein Ehepaar, die der klandestinen Atmosphäre im Kommando Karl Martell und den nächtlichen Aktionen offenbar eine erotische Seite abgewannen und einander ständig abknutschten, und die den anderen Mitgliedern abends in der Zentrale einVideo vorspielten, das sie dabei zeigte, wie sie mit vermummten Gesichtern in ihrer Laube in Treptow einen Stapel Korane verbrannten und die Runde nun um Vorschläge baten, über welche Webseiten sich das Material am besten und effektivsten verbreiten ließe?
Oder Missy , die meistens beschwörend in ein Telefon sprach und seiner Vermutung sowie den aufgeschnappten Konversationsfetzen zufolge damit befasst war, die Entstehung neuer und die Expansion existierender Salons zu koordinieren – Missy, das einzige Mitglied neben Sinn, dessen Klarnamen er kannte: Gisela Munkelmann, elegante Anwältin mit Doppelleben und Zwillingsschwester von Cord Munkelmann, Sumayas Kollegen. Sie hatte ihm bei der ersten Begegnung in der Zentrale ebenfalls nur kurz zugenickt und nicht erkennen lassen, dass ihre Wege sich schon zweimal gekreuzt hatten.
Und dann war da natürlich noch Widukind , der sich niemals selbst die Hände schmutzig zu machen schien, aber immer die richtigen Worte fand, um die anderen anzustacheln, mit der Aura eines zu hoch gewachsenen Napoleons, der Mann mit dem Überblick, der Mann, der die Vorgaben machte, hier ein Schulterklopfen, dort ein aufmunternder Blick, der Mann, der die Urteile fällte: Das war eine gute Aktion. Aber so was hier, das machen wir nicht noch einmal. Der Mann, über dem in der Hierarchie nur noch eine andere Person zu stehen schien, über die zwar nicht offen geredet wurde, deren ehrfurchtsvoll geraunten Codenamen aber bald auch Samson aufschnappte: Aurelius. Aber niemand außer Widukind schien Aurelius je zu Gesicht zu bekommen, niemand berichtete von einer Begegnung mit ihm, er ließ sich nie blicken, obschon sie sich in seinem Haus trafen. Oder wohl eher in einem seiner Häuser, wie Samson vermutete.
Die Zentrale befand sich in einem abgeschiedenen, stillgelegten Schulhaus am Stadtrand von Potsdam, idyllisch an einem See gelegen, die Fassade ganz mit rotem Klinker überzogen. Von außen hatte es den Anschein, als sei das Gebäude dem allmählichen Verfall preisgegeben: Ein verwittertes Schild warnte vor einem bissigen Hund, den es nicht gab; an der schweren Haustür hatten sich die lokalen Graffiti-Sprayer verewigt; die Pforte am Ende des schmalen Weges, der zu der Tür führte, hing schief in den Angeln undquietschte. Eine dünne Schicht Moos überzog die Steinstufen, und zähes Unkraut sprengte mit seinen Wurzeln in Zeitlupe das Kopfsteinpflaster auf der Einfahrt.
Im Inneren jedoch war das Gebäude nach dem neuesten und edelsten Standard ausgebaut. Im Erdgeschoss fand sich eine weiträumige Küche, komplett in gebürstetem Edelstahl gehalten. Im Bad lagen in Seidenpapier eingewickelte französische Seifen bereit, die nach Gebrauch über Nacht von unsichtbaren Händen gegen neue ausgetauscht wurden. Dazu echte Handtücher, die nach Verwendung in einem geflochtenen Weidenkorb landeten, welcher am nächsten Tag ebenfalls jungfräulich der Aufnahme neuer Tücher harrte.
Im ersten Stock waren alle Wände herausgerissen worden, um einem riesigen
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