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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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in Ordnung finden, mit einem Kind ins Bett zu gehen. Aber was im siebten Jahrhundert auf der arabischen Halbinsel meinetwegen üblich war, ist es doch hier und heute nicht! Und wer das nicht zugibt, wer das in Abrede stellt, wer sich verdammt noch mal nicht davon lossagt, der darf hier nicht leben. Darf er nicht.«
    Zornesröte schoss ihr ins Gesicht, und Samson registrierte, wie Widukind ihr beschwichtigend die Hand auf das linke Knie legte.
    Widukind selbst bevorzugte abstraktere Themen. Es war unverkennbar, dass er auf dieser Ebene eine gewisse Hochachtung für den Islam hegte. Ihn trieb um, dass der Islam eine Kraft entfaltet hatte, die ihm unerklärlich war. Eine Attraktivität, die er faszinierend fand, und die den Feind für ihn nicht nur bedrohlich, sondern eigentlich erst bekämpfenswert machte. »Alle diejenigen, die den Islam unterschätzt haben«, dozierte er mehr als einmal, »existieren heute nicht mehr. Was für eine Lektion!«
    Widukind lag daran, mit Samson abzugleichen, was er gelesen oder sich selbst erschlossen hatte, schließlich sei Samson ja Islamwissenschaftler.
    Ob es denn nun stimme , fragte Widukind also, während seine linke Hand sein Kinn umspielte, dass man eigentlich, genau genommen, keineswegs davon sprechen könne, dass der Islam Juden und Christen in besonderer Weise respektiere?
    »Nun ja«, sagte Samson. »Ja und Nein. Als Vertreter der Buchreligionen haben sie bestimmte Privilegien, wenn sie unter islamischer Herrschaft leben. Jedenfalls in der Theorie.«
    »Aber?«
    »Aber dem Korantext zufolge sind sie im Grund nichts als dumme, halsstarrige Verweigerer, für deren Festhalten an ihrer althergebrachten Religion es nach dem Erscheinen Mohammeds keinen Grund mehr gibt.«
    Bedächtiges Nicken, während die stahlblauen Augen einen unbekannten Punkt in der Ferne fixierten. »Und der Prophet, korrigieren Sie mich, bitte , falls ich da falschliege, aber mir leuchtet da etwas nicht ein. Ich meine, wenn die von ihm empfangene Offenbarung für alle Zeiten unveränderlich gültig ist, wie kann man denn dann erklären, wieso Mahomet immer dann passende Offenbarungen erhielt, wenn sie ihm in seiner ganz persönlichen Lage gerade weiterhalfen? Und dass eine Menge gerade dieser Offenbarungen am wenigsten, wie soll ich sagen, universell anwendbar sind?«
    »Genau!«, sekundierte Missy, die sich neben sie gesetzt hatte, ein bisschen näher an Widukind als an Renatus , und ihre hübschen, schlanken Beine übereinanderschlug und den Kopf vorbeugte wie eine strebsame Abiturientin.
    »Tja, das ist ein wunder Punkt, würde ich sagen«, antwortete Samson. »Es ist so, aber es darf nicht so sein. Wer an dieser Säule rüttelt, bringt das gesamte Gebäude zum Einsturz. Also wird das Problem ignoriert wie der sprichwörtliche Elefant im Zimmer. Oder es wird wortreich wegerklärt. Aber nicht überzeugend. Niemals überzeugend.«
    »Und ist es nicht ähnlich mit dem Mythos von der Religion des Friedens? Mir scheint es, als sei das doch eigentlich recht einfach zu dekonstruieren. Denn wenn ich mich nicht täusche, dann kann man ja wohl festhalten, dass der Korantext desto gewaltbefürwortender wird, je mächtiger die islamische Gemeinde in ihrer historischen Entwicklung wird. Und da jüngere Koranpassagen ältere bekanntlich aufheben, bleibt am Ende wohl im Kern eine eher kriegerische Religion, nicht wahr?«
    »Ja.«
    »Eine Religion mithin, in der der Krieg gar nicht wegzudenken ist.«
    »Ja.«
    »Man könnte also den Dschihad sozusagen als eine Art des islamischen Gottesdienstes beschreiben, den bewaffneten Dschihad meine ich natürlich.«
    »Ja.«
    Ja, verdammt .
    War es etwa nicht so?
    Natürlich war es so.
    Natürlich war es nicht so.
    Es war sogar genau andersherum.
    Oder doch nicht?
    Samson war selbstverständlich klar, was Widukind hören wollte und was er deswegen sagen musste. Aber das änderte nichts daran, dass es schwierig gewesen wäre, ihn zu widerlegen. Dass er sich nicht einmal anstrengen musste, ihm recht zu geben oder ihn gar mit zusätzlichen Argumenten zu versorgen. Mit Argumenten, die ihm bisher nie eingefallen waren. Oder wären. Aber während er mit Widukind debattierte, fielen sie ihm ein, machten sich von alleine bemerkbar, und er ahnte, dass sie schon die ganze Zeit in seinem Kopf genistet hatten, aber in einer abgesperrten Ecke, in seinem ganz privaten Giftschrank.
    Er dachte an Sumaya und schämte sich, dass er sich nicht bei ihr gemeldet hatte, seit er in Potsdam ein- und

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