Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
Vom Netzwerk:
eingeladen wurden.
    Und immer, wenn ihr zwischen diesen Tätigkeiten Zeit blieb, räumte sie das kaum eingerichtete Büro aus: Ließ sich zum Beispiel von der Bundestagsverwaltung Container kommen, um die wenigen Akten versiegeln und lagern zu lassen, bis irgendjemand entscheiden würde, was damit geschehen sollte – es könne sein, dass die Polizei noch einmal darauf sehen wolle, ließ man sie wissen, weswegen Sumaya den Vertrag, den Lutfi Latif mit Samuel geschlossen hatte, verschwinden ließ. Sie packte auch ihre eigenen Unterlagen Schicht für Schicht in Umzugskartons, und weinte still, als sie durch die Karteikarten ging, auf denen sie Vorschläge für Lutfis Antrittsrede als Leiter der Deradikalisierungsstelle notiert hatte.
    Die Trauerfeier im Bundestag verlief so würdevoll wie geschäftsmäßig. Sumaya zweifelte daran, dass sie dem Abgeordneten gefallen hätte. Dabei mangelte es in den Reden der Kanzlerin, der Fraktionsvorsitzenden und des Parlamentspräsidenten keineswegs an tief empfundenen Gefühlen. Sumaya hatte bloß das Gefühl, dass alle froh waren, als es vorbei war und das Streichquartett seine Instrumente wieder in die Koffer gepackt hatte und an dem auf einer Art Staffelei aufgestellten, übergroßen Schwarz-Weiß-Foto des Abgeordneten vorbei in die dampfende Hitze des Bundestagsfoyers gestapft war.
    Fadia Latif hatte es vorgezogen, nicht zu kommen.
    Als sie sich gerade auf den Rückweg in das Büro machen wollte, um sich weiter dessen Abwicklung zu widmen, fasste der Fraktionsgeschäftsführer der Grünen Sumaya kurz an der Schulter. »Entschuldigen Sie, es ist vielleicht kein guter Zeitpunkt, aber ich wollte gerne kurz mit Ihnen über Ihre Zukunft sprechen.«
    Ihre Zukunft?
    Sumaya erfuhr, dass sie laut ihres Vertrages Anspruch auf eine Weiterbeschäftigung in der Fraktion hatte. Im Arbeitskreis  III , sagte der Fraktionsgeschäftsführer, ein jovialer Sachse, gebe es einemögliche neue Verwendung, wenn sie Interesse haben sollte. Als Referentin für Ökolandbau.
    Sumaya bedankte sich und sagte ab.
    Sie vermisste Samuel und fühlte sich um den Anfang dessen, was sie mittlerweile als Beziehung zu bezeichnen bereit war, betrogen.
    »Eigentlich«, sagte sie Mina abends auf dem Balkon ihrer gemeinsamen Wohnung, »sollte ich jetzt mit ihm im Freiluftkino sitzen und Händchen halten, und wir würden uns aneinander gewöhnen.«
    »Wenigstens macht er etwas Wichtiges, etwas Mutiges«, sagte ihre Mitbewohnerin.
    »Und Gefährliches«, ergänzte Sumaya.
    Doch Samuel war nicht der Einzige, um den sie sich Sorgen machte. Es war offensichtlich, dass es Fadi nicht gut ging. Er war rastlos und voller Zorn. Und manchmal, wenn seine Augen zu engen Schlitzen wurden, während er sprach, bekam sie Angst vor ihm. Nein. Nicht vor ihm. Aber vor dem, der er sein könnte.
    Ihr Cousin hatte damit begonnen, sich einen Bart wachsen zu lassen. Sie hatte ihn darauf angesprochen: »Hey, Fadi, ist dein Rasierapparat kaputt?« Aber er hatte nicht gelacht. Stattdessen hatte er ihr erklärt, dass er sich nicht verstecken werde.
    »Wie meinst du das?«
    » Susu , wenn diese Arschlöcher einen Muslim zum Anmachen suchen, werde ich nicht so tun, als wäre ich keiner.«
    Fadi war nie religiös gewesen, aber plötzlich stellte Sumaya fest, dass er mehrere Bilderrahmen mit Koran-Kalligrafien in seinem Internetcafé aufgehängt hatte. Und an der Eingangstür, von außen gut sichtbar, prangte ein islamischer Willkommensgruß in arabischer Schrift.
    Und er war müde. Normalerweise war ihrem Cousin sein Schlaf heilig, aber nun, wenn sie ihn abends nach der Arbeit besuchte, was sie fast täglich tat, konnte er sich manchmal kaum noch auf sie konzentrieren. Sie fragte nach. »Fadi, wieso bist du so müde, hast du eine Freundin, erzähl mir alles!« Doch wieder brachte ihr Cousin nicht einmal ein Lächeln zustande. Sie fragte erneut. Aber er wichaus. Sie fragte wieder. Erst beim dritten Mal erzählte er ihr, womit er seine Nächte verbrachte.
    »Die Moscheen, wir passen auf.«
    »Was ist mit den Moscheen?«
    »Susu, kriegst du denn gar nichts mit? Du lebst doch auch hier!«
    Nein, offenbar bekam sie nicht genug mit. Alle größeren Moscheen in Kreuzberg und Neukölln, berichtete Fadi ihr, waren in den Tagen seit dem Attentat auf Lutfi Latif auf die eine oder andere Art attackiert worden.
    »Es sind nicht mehr nur Aufkleber an der Wand. Es ist schlimmer geworden.«
    »Wie schlimmer?«
    »Schweineblut. Drohungen im Briefkasten. Solche

Weitere Kostenlose Bücher