Radikal
ein paar Worte über ihre beiden früheren Begegnungen verlieren würde – den Vortrag vor dem Juristenverband und kurz darauf in Sinns Villa. Er behielt recht.
»Wir hatten ja keinen besonders guten Start, nicht wahr?«, sagte sie.
»Ach, wie man’s nimmt. Ich fand Sie schon beim ersten Mal sehr überzeugend.«
»Ich habe mich nur eingemischt, weil ich Ihren Ausführungen etwas entgegensetzen wollte. Sie haben die Klaviatur der Dialogindustrie meisterhaft bedient.«
»Ja, gelernt ist gelernt.«
»Ich habe gehört, dass Sie bei dem Anschlag dabei waren, und dass Sie das, wie soll ich sagen, beeinflusst hat?«
»Ja, das stimmt. Ich würde es so sagen: Das war der Strohhalm, der dem Kamel den Rücken gebrochen hat.«
»Und vorher?«
»Wie sagt man: Der Hund, der Angst hat, bellt am lautesten. Oder so ähnlich. Bestimmt gibt es irgendein vietnamesisches oder guatemaltekisches Sprichwort mit diesem Sinn.«
»Sie meinen so etwas wie: Direkt vor dem Sonnenaufgang ist es am dunkelsten?«
»Ja, so was in der Art.«
Gisela Munkelmann beugte sich zur Seite, tauchte mit einem Becher in der Hand wieder auf und saugte an einem Strohhalm. »Ich stand auch mal auf der anderen Seite, gewissermaßen.«
»Wie das?«
»Ich war mal mit einem Tunesier verheiratet. Wir hatten uns im Urlaub kennengelernt, natürlich in Tunesien. Er war charmant, ich war jung und dumm. Ich zog zu ihm. Er hat mich geschlagen, regelmäßig, zwei Jahre lang. Grün und blau. Niemand hat mir geholfen.«
»Das tut mir wirklich leid.«
»Ja, mir auch. Scheißkoran.«
Samson sah sie an. Ein bitterer Zug spielte um ihre Mundwinkel. Mit einem Wink ihres Arms wischte sie die Erinnerungen, die sie offenbar überfallen hatten, weg.
»Aber wir werden mehr. Immer mehr, die es begreifen. Sie und ich sind nicht die Einzigen, nicht einmal hier.«
»Was meinen Sie?«
»Hat Widukind Ihnen schon vom Sarazenen erzählt?«
»Nein.«
»Dann warten Sie es ab. Vielleicht tut er es eines Tages. Glauben Sie ja nicht, dass Sie der Einzige sind, der sich mit der anderen Seite auskennt!«
»Was bedeutet das?«, fragte Samson, aber Gisela Munkelmann tat so, als würde sie ihn nicht hören, und er wusste, sie würde ihm nicht mehr verraten.
Für einen Moment blickten beide auf den See, der flach und gleichmäßig aussah wie ein Töpfchen mit hellblauer Wasserfarbe.
»Es ist eben ein Krieg«, sagte Missy schließlich versonnen, während sie ihre Füße im Wasser in kleine, kreisende Bewegungen versetzte.
»Ist es das?«
»O ja, was denn sonst?«
»Und wie weit muss man gehen, in so einem Krieg?«
Missy lächelte und fingerte eine Sonnenbrille aus einer kleinen Jutetasche neben ihrem Campingstuhl. »Bis zum Äußersten«, sagte sie, während sie Samson durch die verspiegelten Gläser ihrer Brilleanschaute, »was denn sonst? Sie haben es doch selbst gesagt. Brillante Idee, übrigens. Und ich weiß , dass ich nicht die Einzige bin, die das findet!«
Samson befolgte ihren Rat und betrat den See etwa hundert Meter weiter westlich, wo der Uferweg zwischen zwei Bäumen einen sanften Einstieg gewährleistete. Schmatzend legte der Neoprenanzug sich an seine Haut, nachdem er Wasserkontakt hatte. Er musste ziemlich lange waten, bis er endlich einen Punkt erreicht hatte, an dem er sich ins Wasser legen konnte, ohne mit dem Bauch gleich auf dem Grund aufzuliegen. Aber sobald es so weit war, stellte sich sofort jenes Gefühl ein, dessentwegen er mit dem Tauchen nie wieder würde aufhören können. Das Gefühl, losgelöst von all dem zu sein, was einen außerhalb des Wassers einschränkte, zu sein.
Es gab wirklich nichts zu sehen. Schlammiger Boden. So gut wie keine Seepflanzen. Schon gar keine Fische. Er hätte genauso gut mit geschlossenen Augen tauchen können, aber darum ging es nicht, sondern um den Zustand der Ausbalanciertheit, von oben unsichtbar, irgendwo in der Mitte zwischen Oberfläche und Untergrund. Ohne sich bewegen zu müssen, trieb er in etwa drei Metern Tiefe vor sich hin. Es kam ihm vor wie die erste Atempause seit Wochen, und vielleicht war es das auch. Kleine Luftblasen perlten aus seinem Atemgerät und stiegen an die Oberfläche, die Hände hatte er unter seinem Brustkorb verschränkt, seine Flossen bewegten ihn regelmäßig, aber absichtsvoll langsam voran. Unwillkürlich dachte er denselben Gedanken, den er jedes Mal dachte, wenn er tauchte: Wenn ein Fisch mich jetzt sieht, was denkt er? Er denkt, ich bin auch ein Fisch.
Auch ein Fisch.
Ein Fisch,
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