Radikal
Länge. An der Wand hinter dem Tisch stand ein noch längeres Board aus ebenso dunklem Holz. Darauf reihten sich Weinflaschen, Whiskeykaraffen, ein Eimer mit Eis, ein Champagnereimer mit Flasche darin und passende Gläser. Neben dem Board hatte ein hoher Vitrinenschrank Platz gefunden. Ansonsten war die Halle leer. An dem Tisch in der Mitte der Halle saßen Widukind , Missy und zwei weitere Männer.
Jetzt, als es so weit war, fühlte Samson sich underdressed. Die anderen vier hatten Abendgarderobe angelegt. Nichts Übertriebenes. Aber so, dass sie als Opernbesucher durchgegangen wären.
Missy trug wieder ein Etuikleid, diesmal ein schwarzes, was noch einen Hauch eleganter wirkte. Ihre Haare hatte sie hochgesteckt, wodurch sie fast glamourös aussah. Nein, nicht fast. Sie sah spektakulär aus. Samson verstand nichts von Make-up und achtete für gewöhnlich nicht darauf, aber als er Missy s Gesicht studierte, bekam er zum ersten Mal eine Ahnung davon, dass es auch beim Schminken einen Unterschied zwischen Handwerk und Kunst geben musste.
Sinn trug einen gediegenen nachtblauen Anzug aus leichtem Tuch. Die Anzüge der anderen beiden Männer aber strahlten mehr aus. Sie saßen so offenkundig perfekt, dass sie maßgeschneidert sein mussten. Vor allem aber ließen sie die beiden Männer aussehen, als hätten sie in ihrem Leben noch nie etwas anderes getragen. Vielleicht, dachte Samson, stimmt das ja auch. Wahrscheinlich sogar.
Als Samson sich dem Tisch näherte, schien es ihm, als wäre das Klacken seiner Schuhsohlen auf dem Betonboden ohrenbetäubend laut. Er war schon fast angekommen, da erhoben sich die drei Männer. Missy blieb sitzen. Samson lächelte ihr zur Begrüßung zu.
Was er als Nächstes tun sollte, wusste er nicht, also blieb er stehen.
»Setzen Sie sich doch, Pippin , willkommen«, sagte Sinn feierlich.
Samson setzte sich auf den einzigen freien Stuhl, die anderen Männer nahmen ebenfalls Platz.
» Pippin , lassen Sie mich Ihnen Jeremias und Aurelius vorstellen, zwei, wie Sie sicher bereits vermutet haben, distinguierte Mitglieder unserer Organisation. Man könnte auch sagen: Nummer eins und Nummer zwei.«
»Sehr erfreut«, sagte Samson, was er noch nie zuvor in seinem Leben gesagt hatte. Die beiden Männer lächelten.
Er war sich nicht sofort sicher gewesen, weil das Licht, das der Kronleuchter bot, nicht besonders hell war, was, wie er spekulierte, womöglich Absicht war. Aber jetzt war er sich sicher: Er hatte sie beide erkannt.
Jeremias , die Nummer zwei : Anfang vierzig, leicht dicklich, rote Backen, Schweinsäuglein. Aber was ihn verriet, das war die blasse, schmale Narbe auf seiner linken Wange – ein Schmiss aus Wiener Studententagen. Jeremias war niemand anderes als Caspar Rentzi, der milliardenschwere Erbe des Privatbankhauses Rentzi & deHalley. Bis vor zehn Jahren hatte er zum Jetset gehört, Marbella, Malediven, Mauritius: Unwillkürlich erinnerte Samson sich an Bilder eines jüngeren Caspar Rentzi in den einschlägigen Illustrierten. Ein Milliardärssohn in Segelschuhen, immer ein Cocktailglas in der Hand und eine Schönheit im Arm. Doch dann war sein Vater bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben gekommen, wenn er sich richtig erinnerte; der Sohn übernahm die Bank, und danach war es still um ihn geworden.
Bei Aurelius , der Nummer eins , dem Mann an der Spitze, dauerte es einen Moment länger, bis Samson auf den Namen kam. Obwohl er das Gesicht sofort wiedererkannt hatte: die flinken pechschwarzen Augen, die hin und her blickten, ohne dass der Kopf sich mitbewegte. Das Nussknackerkinn mit den merkwürdig sinnlichen Lippen darüber. Die umso strenger wirkende kurze, gerade Nase. Die leicht geduckte Körperhaltung, die den um die sechzig Jahre alten Mann aussehen ließ, als läge er auf der Lauer. Die grauweißen Haare, die seinem fortgeschrittenen Alter zum Trotz dicht und buschig waren, und die er einen Hauch zu lang trug, vielleicht, um davon abzulenken, dass er ziemlich klein war. Woher kannte er diesen Mann, dessen Insektenaugen ihn in diesem Moment mit einer präzisen Mischung aus Neugier und Amüsement im Verhältnis von drei zu zwei abtasteten, ganz so, als habe da jemand sein Leben lang die hohe Kunst der indirekten, höflichen Kommunikation geübt. Höflich . War das das Stichwort?
Samson ließ seinen Blick über den Mann schweifen. Die Taschenuhr an der Goldkette. Die samtene Weste zum Anzug. Die goldenen Manschettenknöpfe. Natürlich! Und wie passend, verdammt noch mal
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