Radikal
Radikaler.«
Sumaya wusste nicht, was sie erwidern sollte. Sie spürte nur, dass sie Fadi verloren hatte, jedenfalls für den Moment. Er war weit weg von ihr. Aber Fadi hatte auch sie verloren. Sie wusste genau, warum er sie nicht ansah: Er schämte sich, weil er sie verraten und entgegen seinem Versprechen Samuels Bild weitergegeben hatte, aber er sagte es nicht. Wieso nicht? Wieso sagte er es nicht einfach? Sie wollte ihn fragen, aber es kam ihr nicht über die Lippen. Es war an ihm, sich zu entschuldigen. Er hatte sie noch nie zuvor hintergangen.
Wortlos hatte sie das Café verlassen. Kaum war sie auf der Straße, traten Fadis Freunde wieder durch die Tür ins Innere. Erst jetzt bemerkte sie, dass zwei von ihnen große Rucksäcke bei sich hatten, mit aufgeschnallten Schlafsäcken.
Die Wahrheit war, dass Fadi, seit sie denken konnte, ihr bester Freund gewesen war. Der Gedanke, dass es vielleicht nie wieder sein würde wie früher, machte sie unendlich traurig. Sie wusste nicht, wohin mit sich. Also war sie ziellos herumgefahren, dann in den Supermarkt gegangen. Dann hatte sie bemerkt, dass sie beschattet wurde. Und dann erst, kurz nachdem sie den Görlitzer Park erreicht hatte und quer über die Rasenfläche lief, als ihr die Tränen schon die Wangen herunterliefen, dann erst hatte ihr Telefon geklingelt und Merle Schwalb hatte ihr erzählt, dass und warum Samuel verhaftet worden war.
Sumaya steckte das Handy wieder in ihre Hosentasche, blieb mitten auf der Rasenfläche stehen und drehte sich um. Ihr Verfolger hatte keine Zeit mehr, sich zu verstecken, und blieb ebenfalls stehen.
»Hundesöhne, verschissene Hundesöhne!«, schrie Sumaya, so laut sie konnte, und begann zu rennen.
***
Ein Bett. Ein Schrank aus Spanplatten. Ein brauner Stuhl. Ein Tisch, der zwar die Form eines Schreibtisches hatte, aber gerade einmal groß genug für zwei darauf abgelegte Hände war. Ein Metallregal, an der Wand festgeschraubt, und von dem er nicht wusste, womit er es hätte füllen sollen. Eine Toilette ohne Brille hinter einer halbhohen Sperrholzwand. Ein Waschbecken, groß genug für eine einzelne Hand. Darüber ein Spiegel, an der Wand festgeklebt. Samson sah sich alles sorgfältig an, zweifelte aber daran, dass mehr als fünf Minuten vergangen waren, als er seine Inspektion abschloss.
Sie hatten ihn gefragt, ob er gerne etwas zu lesen hätte.
»Ja, den Koran, bitte«, hätte er fast gesagt, nicht etwa um zu provozieren, sondern weil er irgendwann einmal, als er nicht einschlafen konnte, vor Jahren, beschlossen hatte, dass er, sollte er jemals im Gefängnis landen, den Koran studieren würde. Richtig studieren. Im Original. Er würde dann ja Zeit haben. Was für ein Schwachsinnsgedanke. Ein Gedanke, den man nur denkt, wenn man sicher ist, dass man niemals im Gefängnis landen wird. Ein bequemer Gedanke. Noch so eine Erkenntnis, die gerade einmal fünf Minuten dauerte. Wenn man denn in einem Gefängnis saß.
Am Abend zuvor war er der Haftrichterin vorgeführt worden. Es war eine Formsache gewesen und er nur eine Nummer, die abgearbeitet werden musste. Sie sah ihm nicht in die Augen, sondern verlas ihren Beschluss lediglich in seiner physischen Gegenwart, über deren Wahrheit er zudem nicht etwa selbst Zeugnis ablegte, sondern ein Vollzugsbeamter, der, ebenfalls aus einem Dokument vortragend, seine, Samsons, persönliche Daten referierte. Als sie vortrug, verstand er dringender Tatverdacht , Verdunkelungs- und Fluchtgefahr sowie mögliche hohe Haftstraf e. Er sagte nichts. Er wusste, dass das hier nicht der Ort und die Zeit für einen Kampf waren. Andererseits wusste er auch nicht, was die richtige Gelegenheit wäre. Sein könnte. Müsste.
Um 15 Uhr hatte es Abendessen gegeben, und er kam sich vor wie in einem Altersheim. Zwei Scheiben Graubrot. Zwei Scheiben Wurst, die ihn an Fotos von Masernerkrankungen in seinem Biologiebuch aus der zwölften Klasse erinnerten, Tee, Margarine.
»Keine Angst, ist alles islamkonform oder wie das heißt.«
Unmittelbar zuvor hatten sie ihn untersucht. Er hatte laut gehustet und in einen Becher gepinkelt.
Unmittelbar davor hatte er in einer Wartezelle gewartet auf etwas, von dem er noch nicht wusste und keiner ihm sagte, dass es eine ärztliche Untersuchung sein würde. Unmittelbar davor hatte ein feister Vollzugsbeamter sein Hab und Gut weggeschlossen. Ein Schlüssel. Fünf Euro achtzig in bar. Ein Gürtel, schwarz, Leder. Ja. Ja. Ja.
Unmittelbar davor war er eingeliefert
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