Radikal
Dominik nahmen ihn auf, und als sie alle anderthalb Jahre später ihr Abitur ablegten, da gratulierte sogar sein Tutor, Herr Lehmann, mit einem freundlichen: »Ich gratuliere, Samson, ich wünsche Ihnen alles Gute!« Es war auch auf dieser Reise gewesen, dass Samson und Stefan einander als Freunde nähergekommen waren. Warum sollte er Stefan da eine so harmlose Bitte abschlagen?
***
Munkelmann trug schwer an seiner Aktentasche. Es war nicht so, dass er die edle Mappe aus hellem Kalbsleder schleppen musste, aber als Munkelmann sich endlich durch den schweren roten Windfang gekämpft hatte, da war sein offensichtlicher Vorsatz, die Tasche möglichst lässig und beiläufig zu halten, bereits gescheitert.
Für Merle Schwalb waren solche Momente ein Fest. In ihrem Kopf lief schon jetzt, während Munkelmanns graue Augen sie noch zu orten versuchten, ein ganzer Film ab, mit Munkelmann in der Hauptrolle. Die Tasche, das stand für Merle Schwalb außer Frage, war ein Geschenk seiner Eltern gewesen. Zum Staatsexamen? Zum ersten Job? Eins von beiden, sie war sich sicher. Jurist, vermutete sie weiter. Ein Muttersöhnchen, ganz gewiss. Als Privatperson wahrscheinlich eher unsicher. In einer Funktion aber, und Munkelmann hatte ja eine, wenn auch keine glamouröse, eher professionell. Keine Frage, dass er sich darüber definierte, was er von acht Uhr morgensan und bis vermutlich ebenso spät am Abend tat. Und was tat Munkelmann danach?
Sie spekulierte weiter, denn noch immer hatte Munkelmann sie nicht entdeckt, und sie hatte ihrerseits keinesfalls vor, nach ihm zu rufen oder zu winken. Danach schaute er wahrscheinlich Stefan Raab, beschloss sie, und dazu gab es eine Fertigpizza. Anschließend ein bisschen im Internet surfen. Verheiratet konnte sie ihn sich nicht vorstellen, Munkelmann trug auch keinen Ring, wie sie mit einem schnellen Blick feststellte. Sie schätzte, dass er eher einsam war. Dabei war er nicht einmal hässlich, sogar recht gut gebaut. Aber er kam ihr seltsam zurückgenommen vor, bestimmt kein Draufgänger, vermutete sie. Noch ein paar Jahre, dann würde er vielleicht anfangen, in den Puff zu gehen. Wahrscheinlich hatte er noch einen oder zwei alte Freunde in anderen Städten, mit denen er einmal im Jahr über die Stränge schlug, ein langes Wochenende an der Ostsee oder ein wichtiges Fußballspiel, live im Stadion, eventuell sogar ein Rockfestival, Munkelmann war schließlich auch nicht älter als 32, 33. Alles in allem, resümierte sie, war Munkelmann aber langweilig und harmlos.
Merle Schwalb wusste natürlich genau, dass ihre Mutmaßungen nie ganz richtig waren, wenn sie auch häufig zu einem erstaunlich hohen Prozentsatz zutrafen. Es war aber eine über die Jahre gewachsene Angewohnheit von ihr, sich von Menschen, die sie professionell traf, zunächst selbstständig ein Bild zu machen, selbst auf der Basis winzigster Beobachtungen, und zwar ein umfangreiches Bild, ein geradezu episches. Und erst dann erlaubte sie Fakten, dieses Bild zu bestätigen oder zu verändern. Sie brauchte einfach eine Arbeitshypothese, wenn sie mit jemandem zu tun hatte.
Sie war sich zwar bewusst, dass eine gute Journalistin genau so nicht arbeitete. Aber sie wusste ja auch, dass sie keine gute Journalistin war. Merle Schwalb würde zwar jeden, der das behauptete, sofort angreifen, verklagen oder vom Gegenteil zu überzeugen versuchen, verdammt , sie war schließlich Hauptstadtkorrespondentin beim Globus , ein Job, für den die meisten deutschen Journalisten ihre Schreibhand abhacken würden. Aber das war ihre öffentliche Seite. Sich selbst gegenüber hatte sie kein Problem damit zuzugeben, was sie konnte und was nicht. Sie war als Journalistin schlichter Durchschnitt. Wenn man erst einmal beim Globus war, kam der Rest allerdings fast von alleine, Informationen, Anerkennung und eine gewisse Attitüde eingeschlossen.
Immerhin, dachte sie nun fast schon anerkennend: Munkelmann ist in seiner Funktion anscheinend tatsächlich eher ein Profi. Nicht nur hatte er das Café Einstein Unter den Linden als Treffpunkt vorgeschlagen, was zwar nicht originell war, aber schon einmal davon zeugte, dass er die Gepflogenheit der Hauptstadtpolitik kannte. Nein, in diesem Moment bewies er Merle auch noch, dass er mehr als ein gut informierter Anfänger war. Denn anstatt von Tisch zu Tisch zu wandern und sie zu suchen, wandte sich Munkelmann ganz souverän an den Geschäftsführer Herrn Eins, der jeden, den man kennen musste, kannte. Herr Eins aber
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