Radikal
Samson. So wie Enzo Graether kann man es wirklich nicht sagen!
»Nein«, sagte der Silberhaarige, der an diesem Abend offenbar nicht nur als Gastgeber, sondern auch als Moderator fungierte, »so wie Enzo Graether kann man es wirklich nicht sagen. Man muss es wohl anders sagen, wenn man etwas erreichen will!«
Hatte Samson sich nach dem Ende des Referats noch halbwegs wohlgefühlt, war er sich jetzt nicht mehr so sicher. Erreichen? Was denn erreichen?
Ansatzlos begannen die Teilnehmer des Treffens eine Diskussion, die sich vor allem um die Frage drehte, an welchem Punkt Enzo Graether in die Falle der political correctness gelaufen war und wie er sie hätte umschiffen können. Wie Samson nach kurzer Zeit bemerkte, sah die Choreographie des Abends offenbar vor, dass er als Experte eine Art Schiedsrichter spielte, wenn die Rede auf die wahren Absichten und Ziele der Muslime kam.
»Lassen Sie uns doch mal klären, ob es, wie Graether behauptet, tatsächlich Bestrebungen gibt, in diesem Land, und wenn in diesem, dann wohl auch im restlichen jüdisch-christlichen Abendland, die Macht an sich zu reißen – im Sinne eines religiösen Gebotes«, schlug einer der männlichen Gäste vor, ein drahtiger Schnurrbartträger. Elegant richtete er diese Frage an Samson, ohne ihn als den erwähnten Gast zu adressieren oder gar beim Namen zu nennen. Es wusste anscheinend ohnehin jeder, dass er der Gast war.
»Nun«, sagte Samson nach einer kurzen Pause, »sprechen Sie über die nominell muslimische Bevölkerung allgemein oder das islamistische Milieu? Man kann nicht verhehlen, dass es Teil der islamistischen Ideologie ist, den Rest der Welt entweder zum Islam zu bekehren oder zumindest, falls er das ablehnt, unter islamische Herrschaft zu zwingen. Das gilt aber nicht für gewöhnliche Muslime.«
»Aber worauf«, setzte der Mann nach, »basiert denn das, was sie islamistische Ideologie nennen? Etwa nicht auf dem Koran und auf den überlieferten Aussprüchen und Taten des Propheten Mahomet?«
Samson stellte mit einem leichten Schauern fest, dass der Fragesteller eine Form des Namens Mohammed gewählt hatte, die er nur aus anti-islamischen Pamphleten des 19. Jahrhunderts und noch früherer Zeiten kannte. »Trotzdem ist es eine Interpretationsfrage«, entgegnete er betont gelassen. »In der Theorie halten alle gläubigen Muslime jedes Wort des Korans für wahr und ewig und an jedem Ort gültig. Aber Islamisten agitieren auf dieser Grundlage, weil sie glauben, dass darin ein Ausweg aus der angenommenen Misere der islamischen Welt liegt. Nicht-islamistische Muslime trennen zwischen ihrem Glauben und ihren öffentlichen Taten aber fast genauso wie wir das meistens tun.«
»Sie glauben also dasselbe wie die Islamisten, handeln aber nicht danach? Ist es das, was sie meinen?«
»Auf einer abstrakten Ebene, vielleicht. Abstrakt! Der gewöhnliche Muslim, wenn er denn gläubig ist, hat aber meistens nicht viel mehr im Sinn, als halbwegs gottgefällig zu leben. Er akzeptiert es zum Beispiel, dass er als Migrant in Europa an die hiesigen Gesetze gebunden ist. Ein Islamist wird das nicht so sehen.«
»Ah ja. Islamisten wenden also aktiv an, was Nicht-Islamisten passiv glauben. Könnte man es so sagen?«
Samson fühlte sich überrumpelt. Natürlich war das nicht das, was er gesagt hatte. Zumindest nicht das, was er glaubte. »Bleiben wir doch bei dem Beispiel. In der Frage der Gesetzestreue von muslimischen Migranten in einer nicht-islamischen Gesellschaft sind diejenigen Theologen eindeutig in der Mehrheit, die sie verteidigen«, entgegnete er. »Die Islamisten sind eine kleine Minderheit.«
»Mag sein«, mischte sich nun die Brünette ein. »Aber das ändert doch an einem Umstand nichts: Man muss ein Hilfskonstrukt finden, damit man sich als Muslim an die hier geltenden Gesetze überhaupt halten muss. Sie kennen die Begründungen dieser angeblich moderaten Gelehrten ja selbst: Die Gesetze hier sind bindend, weil man sich theologisch betrachtet im Zuge der Einwanderung durch einen Vertrag dazu verpflichtet hat. Aber die innere Begründung dieser Gesetze, ihren Ursprung, ihre Logik, ihren Geist : Das als gläubiger Muslim nachzuvollziehen ist doch unmöglich. Es ist ein Zugeständnis, wenn man sich an hier geltende Gesetze hält. Mehr nicht. Echte Akzeptanz unserer Werte würde nämlich den Abfall vom Glauben beinhalten.«
Samson hörte, wie einige Gäste zustimmend murmelten.
»Denkt man es zu Ende durch«, fuhr die Brünette fort,
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