Radikal
Realitäten heute nicht sogar geboten, die Muslime ohne Betrachtung ihrer Staatsangehörigkeiten und ähnlicher artifizieller Konstrukte auch politisch als eine Einheit anzusprechen? Sie handeln doch längst danach, jedenfalls die unter ihnen, die überhaupt handeln! Wenn wir das nämlich nicht tun, dann erlauben wir uns zwar den Luxus, ein wunderbar differenziertes Bild von unserem Kontrahenten zu zeichnen. Aber währenddessen handelt unser Kontrahent doch schon längst aufder Grundlage von Strategien, die uns wiederum als Einheit sehen. Welcher Muslim macht denn einen Unterschied zwischen Spanien und Portugal? Zwischen Dänemark und Deutschland? Das ist für die einfach alles islamisches Gebiet, weil es das früher einmal war, oder es soll islamisches Gebiet werden.«
»Aah, ich bin froh«, nahm Sinn den Ball auf, »dass sie diesen Aspekt angeschnitten haben. Er treibt mich auch um. Ich glaube aber, dass der Schlüssel nicht allein in der Politik liegt oder in der Art und Weise, wie die internationalen Beziehungen gestaltet werden. Diese Apparate und die Politiker, die sie steuern, haben meistens viel zu viel Scheu, die Dinge offen auszusprechen. Sie sind zu feige , um es in aller Deutlichkeit zu sagen. Es kommt also umso mehr darauf an, wie der bewusste Teil der Bevölkerung, als dessen Avantgarde ich, in aller Bescheidenheit, zum Beispiel unsere Runde sehe, die Dinge versteht – und dann danach handelt .«
»Glückliche Schweizer!«, warf die Brünette ein.
»Nein, nicht glücklich – selbstbewusst!«, entgegnete Sinn. »Natürlich ist ein Minarettbauverbot als Symbol wertvoll. Aber vor allem sendet es eine Botschaft aus, in diesem Fall sogar eine Botschaft des Schweizer Volkes: Es gibt keinen moderaten Islam, das haben wir jetzt verstanden – und wir handeln danach. Wir lassen uns nicht unterwandern, wir passen uns nicht an euch an, und schon gar nicht lassen wir uns erobern, um keinen Preis. Denn wo heute gebetet wird, werden morgen Hände abgehackt und Ungläubige gesteinigt! Die Zeit, sich zu wehren, ist längst angebrochen.«
Die Gäste nickten zufrieden.
»Vielleicht sollten wir angesichts des Schweizer Erfolgs und der Burkaverbote in Frankreich und Belgien darüber nachdenken, ob man nicht auch hier …«, fragte der Hornbrillenträger. Doch Sinn fiel ihm freundlich ins Wort: »Werter Herr, Sie wissen doch, dass wir auf dieser Ebene keine Aktivitäten diskutieren.«
Samson rang mit sich. Schon eine ganze Weile lang hatte ihn niemand mehr um seine Meinung gebeten. Doch nun, beschloss er, würde er von sich aus etwas sagen. Merkte denn niemand unter den Gästen, wie bizarr es war, dass hier ein Regierungsmitglied Dinge vortrug, für die er aus der Regierung fliegen würde, wenn er sie öffentlich sagen würde? Samson suchte Blickkontakt zu Doktor Sinn. Er spürte nun, dass auch andere Gäste bemerkten, dass er etwas sagen wollte. Wenn schon, denn schon, dachte Samson.
»Herr Sinn, Sie sind Staatssekretär. Sie sind Mitglied einer Regierung, die seit Jahren Integrationsbemühungen von Muslimen fordert. Ihre Regierung investiert Geld in die Ausbildung aufgeschlossener Imame. Und jetzt sagen Sie, es gebe gar keinen moderaten Islam? Ich könnte mir vorstellen, dass ein guter Teil Ihrer Wähler sehr verwundert wäre, wenn er erführe, was Sie anscheinend wirklich glauben.«
Das hatte Samson sagen wollen.
Nur dass er so weit nicht kam.
»Herr …« – das war alles, was Samson sagen konnte. Denn bevor er auch nur den Namen des Staatssekretärs aussprechen konnte, fielen ihm drei Gäste gleichzeitig ins Wort: »Der Kodex!« – »Entschuldigung , aber der Kodex!« – »Kodex!!«
Samson blickte verwirrt in die Runde. Der Kodex?
»Entschuldigung, ich hätte das natürlich eingangs erwähnen sollen«, erklärte der Staatssekretär freundlich lächelnd. »Aber wir nennen unsere Namen hier nicht. Und auch nicht unsere Positionen. Es mag in einigen Fällen eine Illusion sein. Aber wir mögen die Vorstellung, dass wir einander nicht kennen. Dass wir nur hier sind, weil uns die gemeinsame Sorge um die Zukunft und unser gemeinsames Schicksal zusammengeführt hat, und dass wir Gleiche unter Gleichen sind.«
***
»Und, wie hat es dir gefallen?«
Ärgerlich warf Samson das Handy in die Ecke. Er hatte keine Lust, Stefan auf die SMS zu antworten. Ganz sicher nicht jetzt, und wahrscheinlich auch nicht morgen.
Auch Merle würde auf einen Rückruf warten müssen.
Es war kurz nach zwei Uhr am Morgen.
Weitere Kostenlose Bücher