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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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»lösen sich die Probleme der hier lebenden Muslime im Grunde genommen alle in genau einem Fall in Wohlgefallen auf: Wenn sie hier erst einmal die Mehrheit stellen. Und das dürfte, wenn man den neuesten Berechnungen glauben kann« – sie flocht eine kleine Kunstpause ein –, »um das Jahr 2050 herum der Fall sein.«
    »Wissen Sie, was interessant ist?«, erwiderte Samson. »Fast alles, was Sie gerade gesagt haben, hat vor drei Wochen praktisch genausoein bekannter islamistischer Prediger in der Freitagspredigt in einer Braunschweiger Moschee gesagt.«
    »Das überrascht mich nicht«, sagte der Silberhaarige ruhig.
    »Nicht?«
    »Nein. Denn Islamisten sind ja in dieser Hinsicht nur ehrlicher als die anderen Muslime. Und wir hier sind auch ehrlicher als die meisten unserer Mitbürger. Es liegt doch auf der Hand, dass sich die Demokratie und der Rechtsstaat schwerlich mit dem Koran in Einklang bringen lassen. Osama Bin Laden hat es in einer seiner letzten Reden doch ganz gut ausgedrückt: Demokratie ist die Herrschaft der Meisten, nicht die Herrschaft der Besseren. Und selbst wenn alle Menschen einer Meinung wären, würde diese dadurch nicht richtig werden. Denn wollte Gott etwas anderes, wäre es irrelevant.«
    »Osama Bin Laden ist und war nie eine religiöse Autorität«, warf Samson ein, einigermaßen verdutzt, dass der Gastgeber offenbar mit Bin Ladens Ansprachen vertraut war. »In fast allen muslimischen Staaten, aber auch hier im Westen, mühen bessere Gelehrte als er sich doch damit ab, eine Brücke zwischen Demokratie und Islam aufzuzeigen, weil sie sicher sind, dass es sie gibt.«
    »Diese Männer kennt doch niemand. Die liest auch keiner. Ich für meinen Teil kenne keine andere einzelne Autorität, die für mehr Muslime gesprochen hat, als Osama Bin Laden, als er noch lebte, und jetzt eben die, die ihm nachgefolgt sind«, entgegnete der Gastgeber ruhig. »Wir könnten weite Teile seiner Reden nehmen oder meinetwegen auch die von al-Sawahiri und sie Muslimen vorhalten, ohne den Verfasser zu nennen, und kaum einer würde das von sich weisen. Und warum ist das so? Sehen Sie, in Kreisen etwas vulgärerer Islamkritiker ist es en vogue , dem Islam vorzuhalten, er habe keine Reformation durchlebt. Ich halte das für grundfalsch. Denn der Islamismus ist die islamische Reformation. Sie ist eben nicht so ausgefallen, wie wir uns das gewünscht hätten. Es geht folglich nur noch darum, eine angemessene Antwort zu finden . «
    Samson fiel der fast vollständige Mangel an Aggressivität auf. Es ging zivilisiert zu. Ein gesitteter Disput. Und trotzdem war die Atmosphäre ohne Zweifel feindselig, konfrontativ. Er ließ seinen Blicküber die Gesichter der Anwesenden schweifen. Wer waren diese Leute? Stefan und die Brünette waren Juristen, aber die anderen? Ihr Selbstbewusstsein, ihre Bildung, ihr Auftreten – es war klar, dass er es hier vor allem mit Menschen zu tun hatte, die in ihrem Alltag wichtige Positionen bekleideten, Verantwortung trugen und daran gewöhnt waren, entschieden aufzutreten. Zugleich waren sie seltsam beseelt. Wer benutzte denn ernsthaft Begriffe wie Mahomet oder christlich-jüdisches Abendland ? Zwei oder drei Gesichter kamen ihm entfernt bekannt vor, aber Samson war sich nicht sicher. Der Silberhaarige allerdings: Dessen Bild hatte er definitiv mehrfach in der Zeitung gesehen. Aber in welchem Zusammenhang? Plötzlich fiel es ihm ein: Der Mann mit dem Cäsaren-Haarkranz war Doktor Bodo Sinn, der Berliner Innenstaatssekretär!
    Stefan, wo hast du mich da hineingezogen?
    Doch bevor Samson weiter nachdenken konnte, ging die Diskussion in die nächste Runde.
    »Ich würde gerne noch einen weiteren Aspekt diskutieren«, meldete sich nun ein untersetzter Mann mit Hornbrille zu Wort. »Ich finde, Enzo Graether hat eine faszinierende geschichtliche Dimension angesprochen und sich interessanterweise zugleich in genau dem Moment aus den Fesseln der political correctness befreit. Und zwar, als er eine Verbindung zwischen den Muslimen in Deutschland und den Jahrhunderte vor ihnen im Kosovo lebenden Muslimen hergestellt hat. Diese wie jene wollten beziehungsweise wollen die Machtfrage über das Brüten von Nachwuchs entscheiden. Er hat die Muslime in diesem Augenblick einfach als das angesprochen, als das sie sich selber sehen: als eine Gemeinschaft, die Umma eben, ohne Ansehen der geografischen oder geschichtlichen Grenzen. Und warum auch nicht? Ich gehe noch einen Schritt weiter: Ist es angesichts der

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