Radikal
überstanden hatte, klangen ihr in den Ohren.
Merle Schwalb atmete durch, griff zum Telefon und tätigte zwei Anrufe. Ihr Ressortleiter war sofort bei der Sache. »Gute Arbeit. Wir reservieren eine Seite«, sagte Henk Lauter knapp und legte auf. Das Handy von Samson hingegen war ausgeschaltet.
Merle Schwalb starrte auf die merkwürdigen Pflanzen im Innenhof. »Mist«, sagte sie laut.
Sie hätte ihren Exfreund zuerst anrufen sollen.
***
Die Kanapees waren vorzüglich. Samson vermutete, dass er es mit Entenstopfleber unter einem Klecks Preiselbeerschaum zu tun hatte, und sogar das winzige Stück Roggenbrot schmeckte wie frisch gebacken. Auf dem kleinen Clubtisch vor ihm stand zudem ein Glas Barolo, auch das eine eher kostspielige Angelegenheit. Wer auch immer der heutige Gastgeber war, darbte nicht gerade. Dafür sprachen neben der Verköstigung noch andere Indizien.
Stefans SMS war wie versprochen pünktlich um 20 Uhr bei ihm eingegangen: Die Adresse lag in einem Villenviertel in Zehlendorf. Samson lebte seit fünf Jahren in Berlin, aber außer ab und an in Kreuzberg war er eher selten im Westteil der Stadt, in Villenvierteln im Grunde nie, abgesehen von gelegentlichen Besuchen in den nahöstlichen Botschaften im Grunewald, als er Visa beantragt hatte.
Die Villa, in der das heutige Treffen stattfinden sollte, hätte es mit einem dieser Domizile allerdings durchaus aufnehmen können. Als das Taxi ihn absetzte, hatte er sich vor einem kamerabewehrten Eisentor wiedergefunden. Samson stellte fest, dass kein Name auf dem Schild angebracht war. Er klingelte, und das Tor öffnete sich vollautomatisch. Ein Kiesweg führte zum Portal des efeubewachsenen Hauses. Samson folgte ihm. Als er die Freitreppe vor der Haustür erklommen hatte, ging diese ebenfalls augenblicklich auf, diesmal aber nicht elektronisch, sondern weil ein junger Mann in nachtblauer Livree sie von innen geöffnet hatte. Samson hatte seinen Namen sagen wollen, aber etwas angestrengt Bedeutungsvolles im Blick des Mannes hielt ihn davon ab. »Wenn Sie bitte die Treppe nehmen wollen«, sagte der Livrierte und wies formvollendet nach rechts.
Das Hausinnere war nur schwach durch indirektes Licht beleuchtet. Während er die Treppe hinaufstieg, riskierte Samson ein paar Blicke ins Erdgeschoss. Er sah vor allem schwere Teppiche und alte Möbel. An den Wänden, auch im Treppenhaus, hingen gerahmte Gemälde. Oben angekommen, dirigierte ein zweiter Mann in identischer Livree Samson in eine Art Saal am Ende des Flures, dessen Flügeltüren bereits geöffnet waren. Als er ihn betrat, stellte Samson fest, dass es eine Bibliothek war. Hohe Regale säumten die Wände, und ein flüchtiger Blick auf die Buchrücken offenbarte alte Bände ebenso wie solche neueren Datums.
Ein rundes Dutzend Sessel, die einem britischen Club hätten entstammen können, waren im Zentrum des Raumes in einem lockeren Kreis aufgestellt, neben jedem einzelnen stand ein Beistelltisch. In einigen Sesseln saßen bereits Gäste, eine kleine Gruppe von vier oder fünf Personen stand auf dem Balkon am anderen Ende der Bibliothek und beobachtete den spektakulären Abendhimmel, der sich gerade auf seine totale Verdunkelung vorbereitete, aber noch nicht ganz vom letzten Licht des Tages lassen wollte – ein Schauspiel von roten und violetten Wolkenfetzen auf einer hellblauen Leinwand.
Niemand stand auf oder ging auf ihn zu. Auch Stefan war noch nicht da.
Samson setzte sich in einen der Sessel, was vermutlich eine angemessene Entscheidung war, denn die beiden Gäste links und rechts von ihm, beide ungefähr Mitte fünfzig, nickten ihm kaum merklich zu.
Stefan kam in dem Moment durch die Flügeltür, als der livrierte Diener aus dem Erdgeschoss gerade die Kanapees zu verteilen begann. Sein Gegenstück aus dem Obergeschoss ging unterdessen von Sessel zu Sessel und fragte leise: »Barolo oder Whiskey?« Samson, der gerade seine Entscheidung getroffen und mitgeteilt hatte, wollte aufstehen und Stefan begrüßen, aber Stefan ging einfach zu einem freien Sessel und beließ es nun seinerseits bei einem angedeuteten Nicken.
Anscheinend war Stefan der letzte angekündigte Gast. Nachdem er sich gesetzt hatte, schlossen die beiden Diener die Flügeltüren. Die Gäste, die auf dem Balkon gestanden hatten, begaben sich in die Bibliothek. Samson bemerkte überrascht, dass unter ihnen die Brünette aus seinem Vortrag vom Vormittag war, sie trug jetzt ein elegantes graues Etuikleid. Sie war die einzige Frau. Die
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