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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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übrigen Besucher waren in der Mehrheit mittelalte oder gesetzte Herren. Abgesehen von Stefan, der Brünetten und ihm selbst waren unter den vierzehn Teilnehmern noch zwei weitere, die möglicherweise unter vierzig Jahre alt waren. Noch immer sprach niemand. Samson fühlte sich orientierungslos. Der Einfachheit halber nahm er an, dass der schlanke silberhaarige Mann, der nun die Tür zum Balkon schloss, der Hausherr sein musste. Eine Vermutung, die Sekunden später bestätigt wurde.
    »Meine Dame, meine Herren, herzlich willkommen, ich freue mich, dass Sie alle hier sein können«, sagte der hochgewachseneMann, durchaus nicht unfreundlich, nachdem er sich in den einzig verbliebenen Sessel gesetzt hatte. Er hatte lebendige stahlblaue Augen, glatt gespannte Gesichtshaut, kein Gramm Fett zu viel am Körper und einen Cäsaren-Haarkranz. Ein Karrieregesicht, dachte Samson. Ein Manager vielleicht, oder ein Unternehmer. Eventuell ein Professor.
    »Wie ich höre, haben wir einen Gast heute, auch Ihnen ein herzliches Willkommen.« Samson wollte schon eilfertig nicken, bemerkte aber gerade noch rechtzeitig, dass niemand, den Gastgeber eingeschlossen, ihn ansah. Also unterließ er es.
    »Bevor wir beginnen, meine Dame, meine Herren, wie immer ein Hinweis auf die Regeln, die wir uns auferlegt haben, einvernehmlich, wie ich gerne in Erinnerung rufe, und die wir als absolut verbindlich erachten«, sagte der Gastgeber. »Sie gelten selbstverständlich auch für unsere Gäste«, fuhr er fort, wobei er Samson erstmals anblickte, wenn auch nur flüchtig.
    »Kein Wort, das heute Abend fällt, verlässt diesen Raum«, begann der Silberhaarige die Aufzählung. »Wir sind alle Gleiche unter Gleichen, ohne Ansehen von Alter, Erfahrung und sonstigen Attributen«, fuhr er fort.
    Ein strenger Blick in die Runde.
    »Es gibt keine Tabus, das ist der explizite Zweck dieser Begegnungen . Es gelten überdies die allgemein akzeptierten Grundregeln des gesitteten Disputs. Und nun: Lassen Sie uns beginnen!«
    Wie sich zu Samsons Überraschung herausstellte, hatte der Abend eine Choreographie. Einer der Gäste, einer der wenigen jüngeren, auch er im Anzug, begann wie auf ein stilles Kommando mit einer Art Referat. Er fasste als Vorabdrucke erschienene Auszüge eines Buches namens »Eine kurze Geschichte der Islamischen Republik Deutschland« zusammen, die in der Vorwoche für erhebliche Aufregung gesorgt hatten. Es war bereits das zweite Buch von Enzo Graether, dem ehemaligen Chef eines Industrieverbandes. In seinem ersten Buch hatte Graether provokante Thesen zur sozialen Schieflage im Land im Allgemeinen und zum Anteil der Migranten daran im Besonderen veröffentlicht, unter denen er die Muslime speziell hervorhob, denn diese hätten höchstens für den Obst- undGemüsehandel eine produktive Bedeutung und für die Kriminalität. In dem zweiten Buch war Graether nun einen Schritt weitergegangen und hatte eine Art Horrorszenario für das Jahr 2050 entwickelt, in dem es ein muslimischer Bundeskanzler mit türkischen Wurzeln endlich schafft, die Scharia in der Präambel des Grundgesetzes zu verankern.
    Samson kannte die Vorabdrucke, wie auch nicht, sie waren von nahezu allen Zeitungen begierig aufgegriffen worden. »Hat Enzo Graether recht?«, hatten sie fast alle wortgleich gefragt. Für den Boulevard war das eine rhetorische Frage, natürlich hatte Graether recht, die Muslime waren drauf und dran, die Spielregeln der Republik zu ihren Gunsten zu verändern. Aber auch in den seriösen Zeitungen, so war Samson aufgefallen, hatte, abgesehen von den geschliffenen Kommentaren der linksliberalen Norddeutschen Zeitung , kaum jemand Graether unzweideutig ins Abseits gestellt.
    Der junge Referent hatte die Vorabdrucke sorgfältig gelesen, stellte Samson fest. Die Zitate waren, soweit Samsons Gedächtnis ihn nicht im Stich ließ, allesamt korrekt. Kurz gab der Redner die Hauptargumente der Kommentare aus den wichtigeren Zeitungen und von anerkannten Intellektuellen wieder, die entweder dezidiert für oder gegen Graether gerichtet gewesen waren. Es gab, wie Samson schien, ein leichtes Übergewicht in der Rekapitulation der Gegenreden zu Graether. Nach etwa fünf Minuten kam der junge Mann zum Ende. Er machte eine kurze Pause und hob dann zu einem kurzen Schlussstatement an: »Wenn mir diese abschließende Bemerkung erlaubt ist: Ich glaube, der geschilderte Vorgang hält eine Lehre bereit. So wie Enzo Graether kann man es wohl kaum sagen.«
    Nein , dachte

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