Radikal
Zeitung gelesen hätte, irgendeine Zeitung.
Stattdessen hatte sie auf dem knapp über eine halbe Stunde dauernden Weg fasziniert beobachtet, wie sehr die Stadt sich über eine so kurze Distanz veränderte. In genau dem Maße, in dem die kleinen Blumenläden, Stehimbisse und Kioske weniger wurden, wuchs entlang der Fahrstrecke nach Mitte die Zahl der reinen Zweckbauten, auf die ihr Blick aus dem Busfenster fiel. Zugleich wurde die Stadt grauer, glasiger, höher. Und wie um ein heimliches kosmisches Gleichgewicht zu bewahren, änderte sich parallel die Komposition der Fahrgäste um sie herum. Die Kinderwagen wurden von Haltestelle zu Haltestelle weniger, die Gesichter weißer, das Make-up dezenter, und der Anteil von Menschen in Anzug oder Businesskostüm stieg von null auf fünfundsiebzig Prozent. Auf dem anschließenden Fußweg, den Sumaya von der Haltestelle in der Kochstraßeaus noch zu bewältigen hatte, steigerte er sich dann noch weiter, jedenfalls wenn man die wenigen frühen Touristen abzog.
Ihr Weg führte sie ein paar hundert Meter über den Boulevard Unter den Linden, bis sie zwei Ecken hinter dem Café Einstein rechts einbiegen musste. Dort fand sie irgendwo zwischen dem Restaurant Margaux, der Parlamentsbuchhandlung und dem Feinkostgeschäft Butter Lindner den Eingang zum Jakob-Kaiser-Haus, der auf dem Zettel vermerkt war, den ihr die Bundestagsverwaltung zugestellt hatte. Anzüge und Aktentaschen, das war ihr aufgefallen. Aber eine Zeitung hatte sie nicht gelesen. Und so wussten alle Anwesenden längst Bescheid, als sie das Büro betrat. Nur Sumaya nicht. Sumaya, die Anfängerin .
»Das ist nicht gerade ein optimaler Anfang«, sagte Lutfi Latif, Gott sei Dank an Munkelmann gerichtet, wie Sumaya bemerkte, während er parallel einem Handwerker zeigte, wo er die gerahmte Weltkarte aufhängen sollte. Das Büro bestand aus drei erstaunlich kleinen Räumen, die durch offen stehende Türen miteinander verbunden waren. Nur der erste hatte eine Tür zum Flur. Überall standen halb ausgepackte Kartons an den Wänden. Auf den drei hellbraunen Schreibtischen waren noch nicht angeschlossene Rechner, Faxgeräte und Telefone verstreut, die Kabel über dem Boden baumelnd. Die Regale waren leer.
»Ja, das kann man wohl sagen«, bekräftigte Munkelmann sachlich, der an einem Laptop auf seinem Schoß hantierte.
»Wissen Sie, wieso der Globus uns vorher nicht angerufen und um einen Kommentar gebeten hat?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass Frau Schwalb für ihre Drähte ins BKA bekannt ist«, antwortete Munkelmann. »Vermutlich war sie sich sicher genug.«
»Gab es schon Presseanfragen?«
Munkelmann zog einen Zettel aus der Innentasche seines Jacketts. »Generalanzeiger , Tagespost , Weltbild.«
»Gut, wir wollen uns nicht verrückt machen lassen. Aber natürlich wird unser Einstieg dadurch etwas chaotischer. Wir müssen uns überlegen, wie wir darauf reagieren.« Lutfi Latif seufzte und wandte sich zur Seite. »Ich fürchte, Habibti , wir können uns frühestens am Abend wieder sehen.«
»Ach, das ist jetzt nicht das größte Problem«, antwortete Fadia Latif. Die Ehefrau des Abgeordneten saß auf dem mittleren der drei Schreibtische, ein Bein unter das andere geklemmt. Neben ihr stand ein kleiner Pappkarton mit Kaffeebechern und Frischkäse-Bagels, die sie zum Einstand mitgebracht hatte. Sumaya fand, dass sie ausgesprochen hübsch war. Zwar war Fadia Latif weder so groß, noch so breitschultrig. Aber es war keineswegs absurd, wenn die Bunte oder Gala sie »die deutsche Michelle Obama« nannten. Sie war elegant gekleidet und kam Sumaya sehr selbstbewusst vor. Zugleich haftete ihr etwas Mädchenhaftes an. Ihre schwarzen Haare waren kaum schulterlang geschnitten. Ihre Fingernägel trug Fadia Latif kurz. Ihre Augenbrauen waren nicht gezupft. Sie war ungeschminkt. Sumaya fand sie sehr sympathisch.
Anmutig kletterte Fadia Latif von dem Schreibtisch.
»Ich wünsche Ihnen trotz der Aufregung allen einen schönen ersten Tag!«, sagte sie in die Runde und lächelte Munkelmann, Sumaya und dem Handwerker zu. »Ich wollte ohnehin nur mal schnell schauen, wie es an dem Ort aussieht, an dem mein Mann nun einen Großteil seiner Zeit verbringen wird!«
Fadia Latif ging zu dem Abgeordneten, gab ihm einen Wangenkuss, winkte noch einmal von der Tür aus und verließ dann das Büro. Sumaya sah ihr nach. Habibti . Obwohl sie noch immer wütend auf sich selbst war, musste Sumaya lächeln. Mein Liebling . So nannte ihr Vater sie.
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