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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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zwar noch ein bisschen betrunken, und die letzten Gedanken, an die ich mich erinnern kann, waren schwarz wie die tiefste Nacht in der untersten Hölle, aber ich will alles hören, was Sie zu sagen haben, alles, und ein bisschen mehr, wenn möglich.
    Sie hatten sich noch am selben Tag getroffen.
    »Aber bitte nicht in Mitte!«, hatte er gebeten.
    »Sehr, sehr gerne nicht in Mitte«, hatte sie lachend geantwortet.
    Sie einigten sich auf den Prater, einen Biergarten im Prenzlauer Berg, der für sie beide ungefähr gleich weit entfernt war. Die Abendsonne fiel wohlmeinend durch die Blätter der Kastanienbäume, als Samson als Erster dort eintraf und sich an einen Tisch setzte, der noch nicht im Schatten lag. Es war angenehm warm. Samson hatte keine Ahnung, was er erwarten sollte. Und als er zwei Stunden später wieder ging, wusste er ebenso wenig, was er von dem Vorschlag halten sollte, den sie ihm unterbreitet hatte. Nur dass er ihn annehmen würde, das war sicher. Auch wenn er ihr das nicht gleich mitteilte, sondern sich der Form halber Bedenkzeit ausbat. Aber natürlich würde er Sicherheitsberater von Lutfi Latif, MdB, Grüne, werden und zu diesem Zwecke regelmäßigen Kontakt zu Sumaya al-Shami halten. Hatte er überhaupt zugehört, als sie ihm gesagt hatte, was der Tagessatz sein würde? Er konnte sich nicht daran erinnern. Dafür aber an die Augen und die Hände von Sumaya al-Shami.
    »Wieso ausgerechnet derkleinejihad.com ?«, hatte sie als Erstes wissen wollen.
    Zum tausendsten Mal ärgerte Samson sich, dass er sein Blog nicht terrornews.de oder jihadismus.info genannt hatte. Aber wie noch jeder gute Arabist hatte eben auch er einen unverwüstlichen Glauben an die Unbescholtenheit, Reinheit und Friedlichkeit des Islams ausgebildet und bei der Taufe des Blogs gefunden, dass es angemessen wäre, seine Fähigkeit zur Differenzierung subtil anzudeuten. Und war das etwa nicht, was er an seinem Universitätsinstitut in Hamburg gelernt hatte: zu differenzieren?
    Dschihad! Nun ja, das ist in der Tat ein komplexes Konzept! Und ein gewaltiger Corpus an Quellen! – Da haben Sie sich ja was vorgenommen, das ist beileibe kein geringes Unterfangen: die Stimmen seiner Professoren, die zwar allesamt ausgerechnet über Karl May an ihr Fach geraten waren, aber trotzdem überlebensgroße Figuren darstellten, zu denen die Studenten aufblickten. Denn sie beherrschten, wovon Samson und seine Kommilitonen fürchteten, dass sie es nie beherrschen würden – Arabisch lesen und verstehen nämlich, ohne Wörterbuch, ohne stundenlange Suche nach vierradikaligen Verben im Lane oder Wehr, die am Ende Bedeutungen hatten wie »Das Blut eines Kamels gemischt mit seinen Haaren essen, nachdem in der Wüste der letzte Vorrat aufgezehrt ist«. Ihreakademischen Lehrer mochten wirken wie Figuren aus einem vergangenen Jahrhundert in ihren Cordsakkos und mit ihrer Schriftgläubigkeit und den Tintenflecken an den Fingern; aber sie hatten in Beirut im Bürgerkrieg ausgeharrt oder in Kairo mit Nagib Mahfuz zusammengehockt oder wenigstens ein Semester in Bagdad gelehrt. Und auf seine Art war jeder von ihnen ein kleiner, verbeamteter Indiana Jones. Hatte unter Beduinen gelebt; hatte Koranfragmente einsehen dürfen, deren Existenz schon ein Geheimnis war; hatte in Timbuktu Handschriften geborgen, ediert und dem Vergessen entrissen. Mochte es auch sein, dass ihr Interesse an lange verstorbenen Arabern größer war als das an noch lebenden – sie waren Hüter von Wissen, Mysterien und Ritualen, die Samson anzogen. Schon der Geruch in der Bibliothek, der den riesigen ledergebundenen Bänden entströmte, entschädigte dafür, dass der Arabisch-Unterricht um sieben Uhr morgens begann, was man seinen Mitbewohnern, die andere geisteswissenschaftliche Fächer studierten, fast nicht erzählen konnte, jedenfalls nicht, ohne dass sie in Lachen ausbrachen.
    Differenzieren wir also . Sie wollen Ihre Magisterarbeit über den Dschihad-Begriff schreiben, Herr Sonntag? Dann wissen Sie ja: Schon die frühen Theologen befanden, es gäbe den großen und den kleinen Dschihad, auch äußerer und innerer genannt. Und der große ist der innere, der persönliche Dschihad. Der Kampf gegen die persönliche Unzulänglichkeit. Die Anstrengung, die es bedeuten kann, den geraden und vorgeschriebenen Weg zu beschreiten, das Fasten im Ramadan durchzustehen oder das Aufstehen zum Gebet im Morgengrauen. Und der kleine, der äußere Dschihad: Das war für sie der Krieg, der Kampf mit

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