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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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Scheiben Toastbrot mit Butter und wahlweise Erdbeermarmelade oder Erdnussbutter oder beidem verabreichte und Tee dazu, aber keinen Kaffee, schien wundersamerweise niemand verkatert, wütend oder aufgebracht zu sein. Stattdessen bereiteten sich alle gut gelaunt auf den nächsten Tauchgang vor, und Sebastian verteilte grinsend Zettel mit einer Skizze des Areals, an dem sie als nächstes Halt machen würden. »Viele Schildkröten«, sagte er. »Die sind cool.«
    Wann war das gewesen? Drei Monate danach.
    Samson löste die Verschränkung seiner Arme und fischte mit dem rechten Arm nach seinem Finimeter. Er hatte noch reichlich Luft. Füreinen Moment schloss er die Augen und zwang sich, die Kälte des Wassers zu ignorieren. Wie hatte die Französin geheißen? Odette? Er war sich nicht mehr sicher. Und Sebastian, braun gebrannt und durchtrainiert, mit Schwielen an den Händen und Falten, die daher rührten, dass er ständig in die Sonne starrte, und nicht daher, dass er sich andauernd den Kopf zerbrach – so wie Sebastian zu sein, wie war das wohl? Sicher angenehm. Angenehm? Gut. Es wäre gut.
    Nur dass er nicht so war. Nicht mehr jedenfalls, falls er es je gewesen war. Aber ein bisschen war er doch so gewesen. Oder etwa nicht? Doch. Es hatte eine Zeit gegeben, als es ihm Spaß machte, neue Menschen kennenzulernen, es war nicht anstrengend gewesen. Im Gegenteil. Woher kommst du? Woran glaubst du? Was machst du? Was willst du machen? Warum? Ah! Cool! Wow! Sounds great! – Me? Well, I am from Germany. I study Arabic. Why? I don’t know, it’s a cool language, you know. – No, no, believe me, Hamburg is cool! Really cool! Come on, forget Berlin!
    Er hatte alles wissen wollen, von jedem, über alles, und keine Antwort in Zweifel gezogen, warum auch, warum annehmen, dass jeder ein Lügner ist oder sein könnte oder einen Grund dafür haben könnte, demnächst einer zu werden? Es hatte ihm auch nie etwas ausgemacht, dass man nur zu zweit tauchen durfte, sich also, wenn man alleine reiste, so wie Samson meistens, jedes Mal einen Buddy suchen musste, irgendeinen aus der Gruppe. Man checkte gegenseitig die Ausrüstung durch, man tauchte nebeneinander, verständigte sich anschließend darüber, was man gesehen hatte  – Nein, die Seegurke schreiben wir nicht auf, das ist für Pussies! –, und dann verewigte man sich im Logbuch seines Buddys , mit einem Smiley, einem kleinen Spruch. Any time, Buddy! , irgend so etwas, warum denn auch nicht. War es etwa nicht spannend und bereichernd, gemeinsam etwas zu erleben? Gab es einen besseren Anlass, ausgelassen zu sein und nett zu aller Welt, zufrieden und sogar ein bisschen glücklich? Es gab einen Song von Midnight Oil, den Quentin immer spielte, wenn er kochte: What’s So Funny About Peace, Love and Understanding? Und wer sich bei Quentin an der Ausgabe seinen Toast holte oder einen Lasagne-Ziegel am Mittag oder sein Hacksteak am Abend, der lachte und stimmte einfach ein.
    Drei Monate danach war das gewesen.
    Da hatte ich es noch gar nicht richtig verstanden. Ich war Hals über Kopf abgehauen und hatte in Australien alles getan, um nur nicht daran zu denken. Aber als ich wieder in Hamburg war, da fing das Gift an zu wirken.
    Er hatte den Siebentagetrip auf dem Tauchboot damals gebucht, weil er sicher sein wollte, dass er nicht erreichbar sein würde. Siebzig Kilometer vor der Küste von Cairns, mitten im Riff, würde es keinen Handyempfang geben und keine Möglichkeit, es sich anders zu überlegen und zu verschwinden. Am Ende wurde daraus die glücklichste Woche, die er je erlebt hatte. Im Nachhinein, jetzt, war ihm klar, dass es ein letzter Höhepunkt vor dem Beginn des Unvermeidlichen gewesen war, ein Abschiedsfest. Und Samson ahnte auch, warum die Erinnerungen an diese ausgelassene Woche gerade heute auf ihn einströmten. Weil ich sie gerne getroffen hätte, als ich noch nicht vergiftet war.
    »Hallo, guten Tag, spreche ich mit Samuel Sonntag?«
    »Ja.«
    »Hier spricht Sumaya al-Shami, ich bin wissenschaftliche Mitarbeiterin im Büro von Lutfi Latif, Sie wissen, wer Lutfi Latif ist, oder?«
    »Ja, natürlich. Guten Morgen. Entschuldigung, ich bin gerade erst aufgewacht. Ich habe lange gearbeitet.«
    »Oh, soll ich lieber später noch mal anrufen? In ein oder zwei Stunden vielleicht? So um 14 Uhr?«
    »Nein, nein, bleiben Sie dran, es geht schon.«
    Bleiben Sie auf jeden Fall dran, bitte, und lassen Sie mich nicht mit mir selbst allein, Sie haben eine nette Stimme. Ich bin

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