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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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sie vorrangig die politische Arbeit unterstützen und ihr Kollege alles Organisatorische im Griff halten sollte. Sumaya fand es nicht unangenehm, alleine mit ihrem Chef zu sein. Im Gegenteil. Es war unkompliziert.
    Als sie ungefähr eine Stunde nach ihrem Aufbruch wieder gemeinsam ins Büro zurückkehrten, tippte Munkelmann schon wieder auf seinem Laptop. Er begrüßte sie lächelnd. »Die Journalisten warten übrigens, sie haben alle noch einmal angerufen«, rief er dem Abgeordneten zu.
    »Ja, mache ich sofort«, sagte Lutfi Latif.
    Munkelmann reichte ihm einen Zettel mit den Nummern der Fragesteller.
    Sumaya ging derweil zurück in ihr kleines Refugium. Lutfi Latif hatte sie gebeten, ihm die Zuschriften der Nazis und Islamhasser zu bringen, damit er sie selbst lesen konnte. Sie zog den Stapel mit den Drohbriefen aus dem Umschlag und begann zu suchen. Doch die Dokumente, für die der Abgeordnete sich interessierte, waren nicht mehr da. In dem Umschlag fanden sich nur noch 51 islamistische Morddrohungen.

[Menü]
V
    Schon seit Minuten hatte Samson sich nicht mehr bewegt. Die Arme unter dem Brustkorb verschränkt, lag er in einem Zustand perfekter Ausbalanciertheit in vierzehn Meter Tiefe im grünen Wasser der Ostsee vor Rerik. Grün wie spanischer Absinth, dachte Samson. Oder wie ein Blick durch die dicken grünen Glasperlen, die die Händler im Souk von Damaskus in großen Körben anbieten. Angenehm grün. Beruhigend grün.
    Die Drift der Wasserschicht, in der er sich befand, sorgte dafür, dass er von ganz alleine längs über das Wrack des wenige Meter unter ihm liegenden U-Bootes getragen wurde. Das Schiff war riesig. Tonnen über Tonnen von Metall, die sich dunkel gegen das Grün abzeichneten. Klaffende Löcher, wo einstmals Luken oder Türme gewesen sein mochten. Unbestimmbare, monströse Einzelteile. Und wenn man nah genug herantauchte, konnte man kindskopfgroße Nieten betasten, glitschig und kalt.
    Seit das Wrack vor einigen Jahren entdeckt worden war, war jede Öffnung, die groß genug war, einen Taucher aufzunehmen, mehrmals ausgeforscht, vergessen und neu entdeckt worden. Mit Taschenlampen, Extra-Sauerstoff und schwerem Werkzeug waren die Taucher dem Trümmerhaufen zu Leibe gerückt. Einige von ihnen kamen fast jeden Tag und eroberten sich das Wrack systematisch, Quadratmeter für Quadratmeter. Wie Würmer in einem Leichnam suchten sie sich ihren Weg in die Innereien. Sie glitten durch den Bauch des Wracks, stießen in jeden Schacht vor, folgten jeder Abzweigung, ließen keinen Gang unbeschritten.
    Auch Samson hatte es früher so gehalten. Er hatte in der Staatsbibliothek sogar der Geschichte des U-Bootes nachgespürt, allerdings hatte er nicht viele Details herausfinden können. Es war vermutlich in den letzten Kriegstagen auf eine Mine gelaufen. Hatte es Tote gegeben? Ja, das hatte es. Waren noch Spuren von ihnen vorhanden? Nein, schon lange nicht mehr. Das Boot war jetzt nur noch ein in Zeitlupe zerfallendes gigantisches Fossil, das geduldig seine Teilzeit-Entdecker verschluckte und nach einer Stunde wieder ausspie. Mittlerweile aber kam Samson ohnehin nicht mehr wegen des Wracks. Er kam wegen des Zustands perfekter Ausbalanciertheit. Wegen des Gefühls, sich nicht bewegen zu brauchen. Samson atmete flach und ruhig, denn so verbrauchte man am wenigsten Luft. Jedes Einatmen verursachte ein metallisches Sauggeräusch. Jedes Ausatmen war Ursprung eines dünnen Strudels von Bläschen, die an seiner Maske vorbei an die Oberfläche stiegen.
    Und keine Angst vor Erinnerungen.
    Oder davor, einen Gedanken zum ersten Mal zu denken.
    Oder davor, einen neuen Fehler zu planen.
    Samson war ein erfahrener Taucher. Im Atlantik hatte er noch als Jugendlicher seinen ersten Tauchkurs absolviert, danach war er mehrmals im Mittelmeer getaucht, einige Male auch im Roten Meer, in Jordanien etwa, an mehreren ägyptischen Sinai-Badeorten, einmal sogar auf einer Insel vor der jemenitischen Küste.
    Vor Jahren, am Great Barrier Reef, hatte die Besatzung des Tauchbootes mitten in der Nacht alle Gäste geweckt. Es werde etwas Besonderes zu sehen geben. Alle, die nichts getrunken haben, sofort tauchfertig machen! Die Mannschaft ließ Unterwasserlampen an der Bordwand herunter, im Gesicht trugen sie ein wissendes Grinsen. Aber über ihre Lippen kam kein Wort, und die Taucher waren zu stolz zu fragen. Stattdessen quetschten sie sich wie befohlen in ihre Neopren-Anzüge, ein Extra-Tauchgang war ein Extra-Tauchgang, sie würden sich

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