Radikal
würde seine Linie sein. Ob Agnes ihn nun noch liebte oder nicht. Darüber hatte er bis vor dem Einschlafen im Morgengrauen nachgedacht, während die S-Bahn-Züge im 20-Minuten-Takt sein Hotelzimmer zum Vibrieren brachten. Morgen, spätestens übermorgen, würde er versuchen, darüber ein vernünftiges Gespräch mit Agnes zu führen.
Seufzend kehrte Ansgar Dengelow an seinen Schreibtisch zurück. Bis dahin würde er sich mit Arbeit ablenken.
Als Nächstes las er seine normale Dienstkorrespondenz. Die Pressekonferenz zu den privaten Sprengstoffproduzenten würde am kommenden Dienstag stattfinden, teilte das Vorzimmer des Präsidenten mit. Schließlich öffnete er das E-Mail-Account, über das er mit seinem V-Mann korrespondierte.
Das war schon interessanter.
Munir hatte sich gemeldet. Sein bester Mann, längst nicht nur bei der Sprengstoffgeschichte. Dengelow wusste nicht allzu viel über seinen Zuträger, auf den das Amt vor einigen Jahren am Rande von Ermittlungen in einem »Ehrenmord«-Verfahren gestoßen war. Aber er wusste, dass Munir sich mit der größten Selbstverständlichkeit unter Kriminellen ebenso wie unter Islamisten bewegen konnte, und darauf kam es schließlich an. Er habe gehört, schrieb ihm Munir, dass al-Qaida demnächst eine deutschsprachige Botschaft veröffentlichen werde. Es sei von einer Website die Rede, die eigens dafür online gehen würde. Möglicherweise seien al-Qaida-Kader vor Ort involviert. Dengelow pfiff leise durch die Zähne. Das war wirklich brisant. Allerdings würde er den Teufel tun und diese Information weiterleiten. Es war natürlich viel zu früh, um Alarm zu schlagen. Aber genau rechtzeitig, um sich alle Optionen offenzuhalten. Er würde abwarten. Das war ohnehin meistens das Beste.
»Versuch mehr herauszufinden: Hinterleute? Ziele?«, tippte er. »Und bei Gelegenheit bitte checken, was in Kreuzberg los ist. Angeblich tun sich da ein paar Islamhasserhasser zusammen, Stichwort ›Riqaba‹.« Dann speicherte Ansgar Dengelow den Text in dem Entwurfsordner des E-Mail-Accounts, das er sich mit Munir teilte, und wo dieser die Nachricht finden würde.
Noch ein zweiter Kaffee, und dann würde er beginnen, sich auf die Dienstbesprechung mit den Kollegen um neun Uhr vorzubereiten. Islamhasserhasser . Gutes Wort, dachte Ansgar Dengelow. Aber vermutlich gab es mittlerweile auch schon Islamhasserhasserhasser.
***
»Ulf ist ein Nazi.«
»Mina!!«
»Na gut, Ulf ist kein Nazi. Aber ich schwöre dir, vor 70 Jahren wäre er einer gewesen.«
»So schlimm?«
»Ja.«
Sumaya sah, dass ihre Mitbewohnerin den Tränen nahe war. Wütend ließ Mina die Wohnungstür ins Schloss fallen und warf ihre schwarze Handtasche in die Ecke.
»Susu, du hast doch heute Abend nichts vor, oder?«, fragte sie.
»Nein, Süße. Ich bin hier.«
»Danke, Susu!«
Sie setzten sich auf den winzigen Balkon, der zum Innenhof des Altbaus ging, in dem ihre Wohnung lag. Entlang des Geländers hatte Sumaya im Frühjahr eine ganze Batterie kleiner Olivenbäume aufgestellt, die mittlerweile gut angewachsen waren. Das hatte den Balkon zwar gemütlicher gemacht. Aber um den Preis, dass er noch beengter geworden war. Mit Mühe hatten sie einen Tisch und zwei Stühle gefunden, die klein genug waren, um sie dort aufzustellen.
Sumaya zwängte sich auf einen der Stühle. Mina war so zierlich, dass sie es fertigbrachte, neben ihrem Hintern auch noch ihre Füße auf der Sitzfläche des Stuhls unterzubringen. Aus ihrer Hosentasche kramte sie eine Schachtel Zigaretten hervor und zündete sich eine an. Mina rauchte nur sehr selten, sodass es für Sumaya immer noch ungewohnt war, wenn ihre Mitbewohnerin Rauch ausstieß.
»Ich hasse ihn«, sagte Mina und starrte dabei auf einen Punkt am anderen Ende des Innenhofes.
»Was ist denn bloß passiert, Süße? Erzähl mal!«
Sie war mit Ulf im Strandbad Grünau gewesen, berichtete Mina. Sie waren zusammen geschwommen, hatten Pommes gegessen und gelesen und eng umschlungen auf ihren Bastmatten gelegen. Alles war schön gewesen. So schön, dass sie an die Zukunft gedacht hatte, und an ein gemeinsames Leben mit Ulf.
»Ich hab zu ihm gesagt, dass ich gerne mit ihm für ein paar Jahre nach Indien gehen würde. Wir sind doch beide bald mit dem Studium fertig. Vielleicht können wir ja bei einer tollen NGO arbeiten oder so, habe ich ihm vorgeschlagen. Alphabetisierung oder Waisenkinder oder Leprakranke oder so. Ich konnte mir das so gut ausmalen, wie wir da so am Wasser
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