Radikal
nichts. Ich will wieder hören. Ich will das nicht. Er soll aufhören, an mir zu ziehen, ich will das nicht.
Ruckartig drehte Merle Schwalb sich um. Irgendetwas oder irgendjemand versuchte, sie aus ihrem Stuhl zu zerren. Es war Samson. Er redete auf sie ein, aber noch immer konnte sie nichts hören. Merle Schwalb deutete auf ihre Ohren und schüttelte den Kopf. Samson nickte. Er bedeutete ihr, dass sie ihm folgen solle. Wieder schüttelte Merle Schwalb den Kopf und zeigte auf ihren Block und auf ihren Stift. Samsons Blick veränderte sich. Er holte aus und gab ihr eine Ohrfeige. Merle Schwalb stand auf und folgte ihm.
***
»Sie kann nichts hören!«, rief Samson gegen die Schreie und den Lärm an.
»O. k.«
»Sumaya, wir müssen hier raus. Sofort.«
»Es sind noch Verletzte da und kaum Sanitäter.«
»Sumaya, es kann sein, dass das hier nur die erste Bombe war. Wir gehen jetzt !«
»O. k.«
»Was ist mit Lutfi?«
»Sie wissen es nicht. Sie haben ihn in die Charité gebracht. Der Sanitäter war sich nicht sicher, ob er noch Puls hatte oder nicht.«
»O. k. Bist du verletzt?«
»Ich glaube nicht.«
»Gut. Komm jetzt.«
***
Samson führte sie zielstrebig in den Gang am hinteren Ende des 2 TV – Studios, das in Wahrheit nichts als ein gläserner Innenhof war, dessen hintere Abgrenzung eine kleine Passage bildete. Rechts ging es zurück zum Boulevard Unter den Linden, es war der kürzere Weg ins Freie, aber Samson zog sie mit Bestimmtheit nach links, wo die Passage in die kleinere Mittelstraße mündete. An der nächsten Ecke zog er sie und die Frau, die er Merle genannt hatte, abermals nach links, in die Friedrichstraße.
Samson musste ihren fragenden Blick richtig gelesen haben. »Polizei und Feuerwehr werden gleich von den Linden aus kommen«, erklärte er im Laufen. »Die müssen da durch, da wird dann abgeriegelt, und wir kommen dann nicht mehr weg.«
»O. k.«
»Wir fahren zu mir«, fügte er hinzu, während er die rechte Hintertür eines Taxis öffnete und die Frau, die er Merle genannt hatte, in das Fahrzeug schob.
»O. k.«
Es fühlte sich vernünftig an, wegzufahren von dem Blut und der Bombe und den gellenden Schreien und der Gefahr einer weiteren Explosion. Aber es fühlte sich auch falsch an, und Sumaya starrte noch minutenlang durch das Fenster nach hinten, während sie sich immer weiter von den Feuerwehr- und Polizeiwagen entfernten, die nun zu Dutzenden aus fast jeder Seitenstraße quollen und mit Blaulicht und Martinshorn in Richtung des 2 TV – Studios preschten.
***
Das erste Geräusch jenseits des Summtons, das Merle Schwalb wieder hören könnte, war das sonore und zugleich dramatische FlappFlappFlapp der Hubschrauber über ihnen. Vielleicht, dachte sie benebelt, weil ich noch nie so viele Hubschrauber über Berlin gehört habe. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf das Geräusch. Wenn sie das hören konnte, konnte sie vielleicht noch mehr hören. Und tatsächlich, als würde allmählich ein Vorhang geöffnet oder als würde ihr Gesicht langsam aus einem Karton voll Watte gezogen, nahm sie nun auch andere Geräusche wahr, wenn auch nur gedämpft. Das Brummen des Taximotors. Das nervöse Reden des Fahrers, wenn sie auch noch keine einzelnen Worte unterscheiden oder gar verstehen konnte. Das Piepsen seines Funkgeräts.
Was war geschehen?
Sie hatte einen Anschlag erlebt. Sie war heute Morgen extra früh aufgestanden, um Lutfi Latif zu beobachten, um Farbe für die Geschichte zu sammeln, für die Geschichte, wie von Arno Erlinger befohlen. Der Abgeordnete hatte einen Auftritt im 2 TV – Morgenmagazin, sie hatte sich eine Reservierung besorgt für den Teil der Sendung, der ab 8 Uhr 30 live aus dem kleinen Bistro-Studio in der Siegfried-Passage übertragen wurde. Der Abgeordnete, dessen Verhalten im Angesicht der angeblichen Lebensgefahr sie beobachten wollte, war in die Sendung gekommen, um eine Initiative zur Alphabetisierung von Migrantinnen der ersten Generation vorzustellen, deren Schirmherrschaft er übernommen hatte. Sie hatte ihn noch nie vorher live erlebt, noch nicht einmal in natura gesehen. Und sie war beeindruckt gewesen, von seiner pantherartigen Geschmeidigkeit, von seinem Obama-Lächeln und von der Aufrichtigkeit, die er ausgestrahlt hatte. Und dann, dann war es passiert.
Was war geschehen?
Sie erinnerte sich an einen Blitz, und an das lauteste Geräusch, das sie je gehört hatte. Vielleicht hatte sie das Geräusch aber schon gar nicht
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