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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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unverstandene Elite, als Rächer des Abendlandes und als Opfer der Political Correctness. Aber das ist doch nicht dasselbe, wie sich eine Panzerfaust umzuschnallen.«
    »Samson, das sind echt beschissene Argumente.«
    Sumaya war wütend, und sie ließ es ihn spüren. Warum spielte er herunter, was er in Erfahrung gebracht hatte? Sah er denn nicht, dass es genau das war, was sie am meisten fürchtete? Dass er über Menschen sprach, die an ihr einzig und allein ihre Religionszugehörigkeit interessierte und nichts weiter, gar nichts weiter. Wieder sah sie ihn an. Was dachte er wirklich? Er selbst? Nicht in seiner Rolle als Islamistenjäger, als von ihr beauftragter Sicherheitsberater, als Arabist? Sondern als Samson. Oder Samuel. Ach Scheiße, er hat nicht einmal einen eindeutigen Namen. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Samson seine Augen schloss und mehrmals tief ein- und ausatmete. Okay, da passiert etwas. Er will, dass ich ihn nicht falsch verstehe. Also los, Samson oder Samuel oder wie auch immer du heißt, sag etwas. Sag etwas, das mir hilft. Los! Jetzt!
    »Sumaya, ich kann dir doch nur berichten, was ich weiß. Aber wenn du mich nach meiner Meinung fragst: Ehrlich, ich weiß es nicht! Es ist alles ein ewiges Ja, aber . Keine Ahnung, ob du verstehst, was ich meine.«
    »Erklär’s mir.«
    »Du sagst, wenn man diese Typen mit denselben Maßstäben behandeln würde wie sich mutmaßlich radikalisierende Islamisten, würde man sie als ernste Bedrohung betrachten. Das stimmt. Aber was, wenn diese Maßstäbe nicht richtig sind? Denn das sagst du doch im Grunde auch. Dass die Polizei und der Verfassungsschutz bei jedem bärtigen Muslim gleich durchdrehen. Und dass das nicht in Ordnung ist.«
    »Weiter.«
    »Und wenn das so ist, wie du sagst, dann muss ich doch dieseIslamhasser-Knallchargen geradezu in Schutz nehmen – jedenfalls solange ich nicht mehr in der Hand habe. Das ist das eine.«
    »Und das andere?«
    »Das andere ist, dass ich verdammt noch mal auch nach all den Jahren, in denen ich mich mit diesen Verrückten beschäftige, nicht weiß, woran man eine sogenannte Radikalisierung erkennt. Ich hab Leute die härtesten Sachen sagen hören, und es war klar, dass sie niemals beabsichtigten, etwas in der Realität zu unternehmen. Ich hab die stillsten und schüchternsten Typen plötzlich in Propagandavideos von al-Qaida wiedergesehen. Und neulich erst habe ich mit der Mutter eines Konvertiten gesprochen, der jetzt in Waziristan ist. Und weißt du, was er am letzten Tag vor seiner Abreise gemacht hat? Um neun Uhr morgens hat er seine Katze zur Impfung zum Tierarzt gebracht. Um zehn hat er seine ungläubige Großmutter besucht. Und um elf hat er sein Testament geschrieben, in dem steht, dass er als Selbstmordattentäter sterben will. Manchmal bemerkt man einfach nicht, dass einer etwas wirklich Übles vorhat, Sumaya, glaub es mir. Und deshalb hab ich keine Ahnung, was ich von diesen Typen halten soll. Ich weiß es nicht. Ich mache keine Vorhersagen mehr. Schon lange nicht mehr.«
    Samson blickte sie eindringlich an. Es war klar, dass er sich diese Sätze abgerungen hatte und dass seine eigene Verunsicherung echt war, so echt, dass es ihm nicht leichtfiel, sie zu offenbaren. Und sie musste zugeben, dass er nur versuchte, niemanden vorzuverurteilen. Und war das nicht eine Falle, in die sie selbst gerade erst getappt war, als sie die Drohbotschaften das erste Mal gelesen hatte?
    »Unentschieden«, sagte sie schließlich.
    »Was heißt unentschieden?«
    »Unentschieden heißt, dass ich darüber nachdenken werde, was du gerade gesagt hast, und dass wir dieses Gespräch fortführen.«
    Samson lächelte. »Sehr gerne.«
    »Gut, abgemacht. Aber jetzt brauche ich noch den Namen, den du herausbekommen hast.«
    »Es ist eine Berliner Anwältin. Sie hat einen der Briefe geschrieben. Welchen, weiß ich leider nicht. Aber ihr Name ist Gisela Munkelmann.«

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VII
    Das kann gar nicht sein, dachte Merle Schwalb und schüttelte den Kopf. Aber ich sehe es, auch wenn ich es nicht höre, gar nichts mehr höre, abgesehen von diesem Summen, von dem ich auch nicht weiß, wo es herkommt. Ich schreibe das jetzt auf. Schreib auf, was ist , so hab ich’s doch gelernt. Der letzte Satz in ihrem Notizbuch war: Moderatorin langweilig, Lutfi brillant. Nun zog sie, immer noch den Kopf schüttelnd, wie um gewaltsam einen Gedanken zu vertreiben, einen dicken Strich quer von links nach rechts über die Seite. Die Uhrzeit, man darf nie die

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