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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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früher nicht oft an diesem Ort gewesen, den sie stets etwas unheimlich gefunden hatte. Vielleicht zwei- oder dreimal hatte Samson sie in sein Reich eingelassen. Dass sie in Wahrheit öfter hier gewesen war, ahnte er nicht. Sie hatte sich damalsjedoch manchmal heimlich hierher geschlichen, nachdem er sie im Bett in seiner Wohnung ein Stockwerk tiefer zurückgelassen hatte, weil er dachte, dass sie schlief und er nun endlich arbeiten könnte. Doch sie hatte nicht geschlafen, jedenfalls nicht immer. Und dann hatte sie ihn manchmal beobachtet, durch den Spalt der Tür hindurch, die sie ein bisschen aufschob, langsam, damit sie nicht quietschte. Einmal hatte sie sich sogar hinter ihn auf den Fußboden gesetzt, fast genau da, wo sie jetzt saß. Derselbe Blick, stundenlang. Die einzige Unterbrechung das blinde Nachschenken aus der Whiskey-Flasche rechts von der mittleren Tastatur, immer dasselbe Glas. Ein Besessener. Sie hatte ihn geliebt. Und bewundert. Zum Beispiel wegen seiner Ernsthaftigkeit. Aber es hatte sie auch gekränkt, dass er sie in fast jeder gemeinsamen Nacht einfach zurückgelassen hatte. Als sei es nicht attraktiv, neben ihr einzuschlafen. Als hätte sie sich, nach dem Liebesakt, urplötzlich von einer Geliebten in ein Hindernis verwandelt, das ihn von der zweiten Erfüllung der Nacht abhielt.
    Merle Schwalb wandte den Blick wieder ab. Sie wollte nicht an die gemeinsame Vergangenheit mit Samson denken, sie tat es sonst auch kaum je, und jetzt war ganz sicher kein guter Zeitpunkt dafür.
    Immerhin, dachte sie, kann ich wieder hören und denken.
    Nur dass ich nicht weiß, was ich denken soll.
    Stand ich denn derartig unter Schock?
    So muss es gewesen sein.
    Oder wie kann es sein, dass es mir nicht eingefallen ist zu helfen? Oder wenigstens wegzulaufen? Stattdessen habe ich bloß dagesessen und geschrieben. Ist das eine professionelle Deformation, in so einer Situation seinen Block vollzuschreiben? Und wenn ja: Ist es dann nicht noch kränker, dass ich jetzt hier sitze, gerade einen Anschlag überlebt habe, mich für mein Verhalten schäme, mich vor mir selbst ekele, und trotzdem nur daran denken kann, heimlich nachzuschauen, ob mein Blackberry noch funktioniert, damit ich meine Notizen an die Redaktion durchgeben kann? Schließlich war ich dabei! Augenzeugin, etwas Besseres gibt es doch gar nicht!
    Doch, es gibt etwas Besseres. Denn Augenzeugen können auch sterben. Wie die Moderatorin zum Beispiel. Oder der Mann mit dem Splitter in der Stirn.
    »Ich, ich wollt Ihnen sagen, ich fand’s gut, dass Sie den beiden Kindern vorhin geholfen haben. Ich bin Merle, ich arbeite beim Globus .«
    Ein kurzer Anflug von Irritation in den riesigen grünen Augen. » Sie sind Merle Schwalb?«
    »Ja.«
    »Ich bin Sumaya al-Shami.«
    »Woher kennen Sie Samson?«
    »Weil er Lutfi Latif berät. Ich arbeite in Latifs Büro.«
    »Kollegin von Cord Munkelmann?«
    »Genau. Und Sie?«
    »Ich kenne Samson schon ewig.«
    »Aha.«
    »Wir … wir waren mal zusammen.«
    »Aha.«
    »Ich muss mal kurz raus zum Telefonieren. Denen sagen, dass ich noch lebe und so.«
    »Klar.«
    In diesem Moment drehte sich Samson auf seinem Drehstuhl herum. »Merle, dann kannst du Erlinger gleich sagen, dass es ein Bekennervideo von al-Qaida im Netz gibt. Das wird ihn schwer beeindrucken. So wie deine Notizen, da bin ich sicher.«
    ***
    Endlich hatte er etwas Handfestes, das er weitergeben konnte. Ansgar Dengelow warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war jetzt 11 Uhr 20. Bis um 13 Uhr könnte der Vermerk fertig sein. Gerade rechtzeitig für die auf 14 Uhr terminierte gemeinsame Pressekonferenz des BKA – Präsidenten mit dem Bundesinnenminister. Bei Gelegenheit würde er Munir eine Extrazahlung zukommen lassen. Etwa zwei Stunden nach dem Anschlag hatte sein Informant ihm eine SMS geschickt: »Es geht los.« Es folgte eine Internetadresse. Dengelow hatte sofort geahnt, was sich dahinter verbarg, und den Link, nachdem er die ersten fünf Sekunden des Videos selbst angeschaut hatte, mit dem Betreff EILT an Bernd Rudolph geschickt. Dann hatte er die Aufzeichnung gemeinsam mit dem Chefauswerter noch zweimal auf einem wandfüllenden Bildschirm in dessen Besprechungsraum angeschaut.
    Eine unverputzte Wand als Hintergrund, notierte Dengelow in seinem Kopf. Daran befestigt eine großflächige schwarze Fahne mit arabischer Schrift. Im Vordergrund ein Mann in einem weißen Gewand, nur der Oberkörper und der Kopf im Bild. Ob er saß oder stand, war nicht zu

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