Radikal
mehr gehört. Denn augenblicklich war da dieser Schmerz in ihren Ohren gewesen. Ein unfassbarer, erst violetter, dann tiefroter Schmerz, dann nur noch das Summen, das alles andere unterdrückte. In ihrer Erinnerung war es, als sei es kurz dunkel gewesen. Aber das stimmte vermutlich nicht. Vielleicht war sie kurz ohnmächtig gewesen oder hatte für einen Moment die Augen geschlossen. Und dann? Was dann? Dann habe ich angefangen zu schreiben. Unwillkürlich tastete Merle Schwalb mit ihrer linken Hand nach ihrer Innentasche. Ja, da war der Block. Ich habe mitgeschrieben. Ich habe protokolliert. Ich habe nicht geholfen, wie diese Frau neben mir, die neben Samson am Tisch saß und von der ich nicht einmal weiß,wie sie heißt. Merle Schwalb spürte, wie ihr Tränen in die Augen schossen. Aber als ihr bewusst wurde, dass sie drauf und dran war, um ihrer selbst willen zu weinen, unterdrückte sie sie.
***
»Samuel?«
»Ja?«
»Wieso warst du überhaupt da?«
»Na ja, du hattest mir gestern am Badeschiff von dem Termin erzählt, und ich … ich wollte dich gerne wiedersehen.«
»Und wieso fahren wir jetzt zu dir?«
»Weil wir nachdenken müssen.«
»Das stimmt nicht.«
»Doch, das stimmt. Aber es gibt noch einen Grund: Ich will wissen, wer jetzt schon Bescheid weiß und wie über den Anschlag geredet wird. Das kann wichtig sein. Und das kann ich nur von zu Hause aus.«
***
Der Bundesinnenminister hat in Berlin auf einer kurzfristig einberufenen Pressekonferenz die Bevölkerung zur Besonnenheit aufgerufen und versichert, dass alles getan werde, um den Terroranschlag vom Freitagmorgen in der Hauptstadt, dem bislang 7 Menschen zum Opfer fielen und bei dem rund 30 Personen verletzt wurden, vollständig aufzuklären und weitere möglicherweise geplanten Anschläge zu verhindern. Unbekannte hatten um kurz nach halb neun in einem TV – Studio im Stadtteil Mitte einen Sprengsatz gezündet. Bislang hat sich niemand zu der Tat bekannt. Die Bundeskanzlerin sagte ihre für den Nachmittag geplante Reise nach Washington ab, wie ein Regierungssprecher mitteilte. Für den Nachmittag ist eine Dringlichkeitssitzung des Kabinetts einberufen worden. Die Bombe war während einer Livesendung explodiert. Zum Zeitpunkt der Explosion hielt sich auch der Bundestagsabgeordnete Lutfi Latif in dem Studio auf. Der Grünen-Politiker war einem Magazinbericht zufolge in den vergangenen Wochen vonislamistischen Extremisten massiv bedroht worden. Der Bundesinnenminister erklärte, es sei zu früh, um über einen Zusammenhang zu spekulieren. Nach Informationen des ARD – Hauptstadtstudios wurde der Abgeordnete der Grünen mit schweren Verletzungen in die Charité eingeliefert.
Merle Schwalb war erleichtert, dass ihr Gehör inzwischen fast wieder vollständig zurückgekehrt war und sie wieder einigermaßen klar denken konnte. Sie saß neben der jungen Frau mit den langen, dunklen Haaren auf dem Fußboden vor einem kleinen Fernseher in Samsons ausgebautem Dachboden und sah, nun schon zum dritten Mal, die Bilder der Explosion. Sie sah sogar sich selbst, von schräg hinten oben aufgenommen, in grobkörnigem Schwarz und Weiß, sie hatte gar nicht bemerkt, dass dort eine Überwachungskamera montiert gewesen war. Dann ein Schnitt: Besorgter Minister in schwarzem Anzug vor Mikrofon. Dann ein weiterer Schnitt: ein Archivbild von Lutfi Latif. Und noch ein Schnitt: ein Ausriss ihres Globus – Artikels. Am unteren Rand des Bildschirm lief derweil ein Band mit den jeweils aktuellsten Meldungen in Endlosschleife: Zahl der Toten auf 9 gestiegen +++ Kanzlerin: »Feiger Anschlag« +++ Bundespräsident will Tatort besichtigen +++ Terrorexperte: »Wir waren gewarnt« +++ US – Präsident kondoliert +++ Alle nachfolgenden Sendungen verschieben sich auf unbestimmte Zeit.
Samson saß einige Meter entfernt von ihr und der anderen Frau an seinem Schreibtisch. Er hatte sofort, nachdem er aufgeschlossen und sie den Dachboden hinaufgescheucht hatte, alle seine Rechner hochgefahren und arbeitete jetzt simultan an drei Tastaturen. Sie sah zu ihm herüber. Sie kannte diesen Blick. Volle Konzentration, kaum ein Blinzeln, die Stirn in Falten. Sie wusste, dass er jetzt nichts von dem wahrnahm, was rechts oder links von ihm oder hinter ihm geschah. Dass es aussichtslos wäre, ihn jetzt anzusprechen. Er würde erst wieder etwas sagen, wenn er meinte, dass es etwas zu sagen gäbe. Vorher würden seine Lippen so dicht zusammengepresst bleiben, wie sie es jetzt waren.
Sie war
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