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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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begann zu schreiben. Er begann mit dem Video. Dann fasste er zusammen oder zitierte aus dem, was die übrigen Kollegen der sofort nach dem Anschlag eingerichteten und per Zufallsgenerator »Zypresse« getauften Besonderen Aufbauorganisation geschickt hatten. Die Spurensicherung war sich bereits sicher, dass es ein einzelner Sprengsatz gewesen war. Höchstwahrscheinlich ferngezündet, eventuell per Handy. Er war unweit des Moderationstresens hochgegangen. Wahrscheinlich kein Selbstmordattentat. Der Sprengstoff war den ersten Testergebnissen zufolge vermutlich TATP .
    Als er fertig war, las Dengelow seinen Vermerk sorgfältig noch einmal durch. Er stellte sich den Ablauf des Anschlags vor. Passte alles zusammen? Gab es offene Widersprüche? Nein, die gab es nicht. Aber eine Frage drängte sich auf: Wer wusste eigentlich seit wann, dass Lutfi Latif an diesem Tag im Studio sein würde? Soweit er wusste, war der Vorlauf bei Sendungen wie dem Morgenmagazin nicht besonders groß. Die al-Qaida-Terroristen müssten also unter Umständen sehr schnell darüber informiert gewesen sein, dass der Politiker eingeladen worden war und zugesagt hatte. Er machte sich eine Notiz, dass einer seiner Männer die Sache klären sollte.
    Dann summte eines seiner Handys.
    Wieder eine Nachricht von Munir?
    Nein. Die SMS kam von Agnes: Ob er den ersten Termin bei Dr. Gabor heute »trotz dieser Sache« wahrnehmen werde? »Ich bitte dich inständig darum. Es ist wichtig – für dich UND für mich.« Wütend tippte er eine Antwort. »Agnes, ich weiß nicht einmal, wann ich das nächste Mal nach Hause komme. Ansgar.« Kurz überlegte er, ob seine SMS zu heftig formuliert war. Ob er Agnes lieber noch einmal anrufen sollte. Aber er schob den Gedanken wieder beiseite. Nicht jetzt. Sie kannte ihn gut genug. Und wenn nicht, war es zu spät.
    Ein erneuter Blick auf die Armbanduhr verriet ihm, dass es sowieso höchste Zeit war, zum Präsidenten zu gehen. Auf dem Weg dorthin, während er mit dem Fahrstuhl vom 11. in den 13. Stock fuhr, wurde ihm allerdings klar, dass der Präsident unter Umständen wissen wollen würde, warum Lutfi Latif eigentlich keine Personenschützer gehabt hatte – und wieso die Kollegen von der Sicherungsgruppe den Ort des Anschlags eigentlich nicht auf eine mögliche Gefährdung überprüft hatten.
    ***
    »Frau Schwalbe! Ich hab mich schon gefragt, wann sie wohl anrufen, nachdem ich im Fernsehen verfolgt habe, dass sie alles mitgeschrieben haben!«
    »Ich sags’s Ihnen noch genau einmal, Erlinger: Mein Name ist Schwalb. Lernen Sie’s oder lecken Sie mich am Arsch!«
    »Nanana, nicht so frostig! Ich verstehe ja, dass Sie etwas durch den Wind sind. Das war ich auch, nach meinem ersten Anschlag, den ich in Mogadischu miterleben durfte. Ist nicht schön. Aber das gehört dazu. Und Sie, Sie gehören jetzt auch dazu!«
    Merle Schwalb schnaubte wütend. Was sollte das? Wo genau gehörte sie jetzt dazu? Zur Bruderschaft der Arschgeigen, denen ab und an eine Frau zuarbeiten durfte? Zum Club der traumatisierten Super-Egos, die weder ihr Trauma noch ihr Ego richtig einstufen können? Nein, dachte sie bitter, und bemerkte dabei, wie sich ihre Wut vom inoffiziellen Chef der Drei Fragezeichen auf sie selbst verlagerte: Erlinger meint etwas anderes. Etwas, das er ganz genau versteht. Und nur deshalb kann er so brutal sein. Weil er nämlich recht hat. Ich gehöre jetzt wirklich dazu. Zur internationalen Arbeitsgemeinschaft der Aasgeier. Zum zynischen Zusammenschluss der Zuschauer. Zu denen, die vom Leiden und Sterben anderer leben.Erlinger gehört schon lange dazu. Aber selbst er hat anscheinend noch nicht vergessen, dass die Eintrittskarte in diesen exklusiven Bund exzessiver Selbstekel ist. Und den kann einem sowieso niemand nehmen. Also kann man auch gleich ein Arschloch sein und sich die geheuchelte Freundlichkeit sparen.
    »Erlinger, hören Sie auf mit dem Gequatsche. Ich will eigentlich nur von Ihnen wissen, was ich mit meinem Zeug machen soll. Brauchen Sie es für unsere Geschichte oder gebe ich es den Onlinern?«
    »Sehen Sie, Schwälbchen, jetzt reden Sie wirklich wie eine von uns, so schnell kann das gehen. Online brauchen Sie nichts zu machen: Der Spiegel hatte auch jemanden vor Ort, und die haben schon die ganze Seite voll mit Augenzeugenzeug. Aber ich kann Ihnen mitteilen, dass das dritte Geschlecht unsere Geschichte vorgezogen hat, sie wird Titelgeschichte, Arbeitszeile: ›Al-Qaidas Todesschwadronen in Deutschland‹. Wir

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