Radikal
ziehen den Andruck vor, und es wäre deswegen sehr, sehr nett, wenn Sie Ihren süßen Arsch bei Gelegenheit hierher beordern könnten. Da können Sie dann was von Ihrem Zeug unterbringen, plus die Lutfi-Orgie, wie besprochen. Ich hoffe übrigens, Sie haben sich nicht verletzt?«
»Wie nett, dass Sie sich sorgen!«
»Verzeihen Sie, dass ich jetzt erst frage, aber wir haben Sie bisher nicht in den Krankenakten der Opfer gefunden, die sich auf unserem Schreibtisch stapeln. Sonst hätte ich mich natürlich sofort gekümmert.«
»Danke, mir geht’s gut. Ich komme gleich. Allerdings kann ich Ihnen jetzt schon sagen, dass es ein Bekennervideo von al-Qaida gibt.«
»Na, das passt doch bestens. Bis gleich!«
Vorgezogener Andruck, das war der Ernstfall. Es bedeutete, dass das dritte Geschlecht um jeden Preis dem Spiegel und dem Argus zuvorkommen wollte, indem sie den Globus bundesweit am Sonntag auf den Markt warf. Das war extrem teuer. Aber die Drei Fragezeichen mussten der Herausgeberin erklärt haben, dass sie genug Material hatten, um aus dem Stand einen Titel zu stemmen, dessen Aufhänger ohne Zweifel der Anschlag sein und dessen Hintergrundaus einer Eilfassung der ursprünglich geplanten Geschichte bestehen würde. Es war nicht so, dass Merle Schwalb die Entscheidung nicht nachvollziehen konnte: Der Globus war eines der wichtigsten Magazine des Landes, aber weniger wegen seiner Tiefenrecherchen, sondern eher wegen seiner Wucht, Schnelligkeit und Entschiedenheit. Dass die Drei Fragezeichen schon brisantes Material zum Thema al-Qaida in Deutschland in ihren Panzerschränken hatten, war ein Vorteil gegenüber der Konkurrenz, den das dritte Geschlecht durch ein früheres Erscheinen voll ausnutzen wollte. Denn es war völlig klar, dass die anderen Magazine ebenfalls Titelgeschichten zu dem Anschlag machen würden.
Wieso aber fühlte sie sich so unwohl bei dem Gedanken an das Nacht-und-Nebel-Manöver? Sicher nicht, weil es bedeutete, dass sie die nächsten 30 Stunden ohne Schlaf in der Redaktion verbringen würde. Das machte ihr nichts aus. War es wegen Samsons bissiger Bemerkung? Samson, der immer alles besser wusste und die Drei Fragezeichen hasste? Wieso hatte er ihr die Neuigkeit mit dem Bekennervideo so vor die Füße geschleudert? War er so entsetzt über ihr Verhalten in der Siegfried-Passage? Oder steckte mehr dahinter?
Langsam öffnete sie wieder die Tür zur Dachkammer. »Samson, ich …«
»Lass mich raten. Du musst in die Redaktion, ihr macht einen Titel.«
»Ja.«
»Und du hättest gerne das Video?«
»Ja, wenn das möglich wäre.«
Wortlos hielt Samson ihr einen Memory-Stick hin.
»Danke, ich weiß das zu schätzen.«
»Kein Problem.«
»Ist es echt?«
»Ich weiß es noch nicht.«
»Was heißt das?«
»Dass ich es noch nicht weiß.«
» Samson! Hast du mehr Zweifel als bei den anderen al-Qaida-Videos, über die du jede zweite verdammte Nacht schreibst?«
»Schrei mich nicht an«, entgegnete Samson leise. »Aber die Antwort ist: Ja. Jedenfalls vorläufig.«
»Warum?«
»Ich weiß es nicht, verdammt noch mal. Es ist ein Gefühl , o. k.?«
»Wirst du, ich meine, kann ich dich deswegen noch einmal anrufen?«
»Ich melde mich.«
»Danke!«
Merle Schwalb stieg die Treppen hinunter, bog in die Schreinerstraße ein, dann in die Samariterstraße. In den Cafés, an denen sie vorbeikam, hatten sich Trauben an den Tresen gebildet, Gäste und Kellner diskutierten erregt miteinander, ganz offensichtlich über den Anschlag. Der Spielplatz, den sie passierte, war hingegen leer gefegt. Auf der Straße waren überhaupt viel weniger Menschen unterwegs als sonst. Schließlich erreichte sie die Frankfurter Allee, eine sechsspurige Straße, die in der einen Richtung direkt zum Alexanderplatz führte. Auch sie war kaum befahren. Dafür stauten sich die Autos in der Gegenrichtung und hupten. Die Menschen verließen das Stadtzentrum. So sieht es also aus, nach einem Terroranschlag in Deutschland.
Es dauerte zehn Minuten, bis sie ein Taxi fand.
»Friedrichstraße Ecke Mittelstraße, bitte.«
»Aber Sie wissen schon, was heut passiert ist, Frollein?«
»Ja.«
»Na denn is ja jut!«
Als sie ausstieg, erwartete sie eine noch gespenstischere Szenerie. Keine Passanten, keine Einkäufer, keine Touristen, die über die ansonsten immer verstopfte Friedrichstraße flanierten – alle Geschäfte waren geschlossen. Es war so still, dass ihr sogar die Abwesenheit des Kreischens auffiel, das die bremsenden
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