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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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S-Bahnen sonst verursachten. Anscheinend war der Nahverkehr eingestellt worden. Berlins Zentrum war lahmgelegt. Allerdings nur, was die Öffentlichkeit anbetraf. Denn anstelle der üblicherweise Anwesenden bevölkerten nun zahllose Polizisten und Feuerwehrleute die Friedrichstraße und ihre Seitenstraßen. Sie verrichteten ihre Arbeit jedoch in fast vollkommener Stille. Die Blaulichter ihrer Fahrzeuge leuchteten, aber die Sirenen waren ausgeschaltet. Eine Invasion gelb und rot und blau gewandeter Aliens. Absperrbandverwehrte nicht Berechtigten weiträumig den Zugang zur Siegfried-Passage, in der sie am Morgen noch Zeugin des Anschlags geworden war, wie sie mit einem Blick um die Ecke feststellte. Auch das einen Block entfernt gelegene Gebäude des Globus konnte sie erst betreten, nachdem sie einem Polizisten ihren Presseausweis gezeigt hatte.
    In der Redaktion wieder ein anderes Bild: Nie zuvor hatte sie die Flure so voll gesehen. Noch der letzte Redakteur war offenbar so schnell wie möglich hergekommen oder herbefohlen worden. Es herrschte eine geschäftige Atmosphäre wie in einem Bienenstock. Faxe quollen aus den Geräten. Sekretärinnen rannten hin und her und versuchten mit zwei Handys gleichzeitig Reporter zu erreichen. Merle Schwalb bahnte sich einen Weg zu ihrem Büro.
    Ihr Zellennachbar Kaiser stand vor seinem Zimmer herum und suchte offenbar dort nach einer Aufgabe. Er begrüßte sie schon von Weitem mit ausladendem Winken. »Hallo Merle, schöne Scheiße, was?«
    »Ja, schlimm.«
    »Du bist der Star hier, alle haben dich gesehen.«
    »Schön war es nicht.«
    »Merle, kannst du denn überhaupt arbeiten? Ich meine, solltest du nicht vielleicht lieber, keine Ahnung, jemanden sehen ? Du weißt schon, was ich meine.«
    »Danke, aber ich glaube, das ist nicht nötig.«
    »Na dann.«
    »Ja, bis später.«
    Dieser ganze Tag, dachte Merle Schwalb, als sie in ihrem Büro ihre Tasche in die Ecke warf und den Rechner hochfuhr, ist so durch und durch unwirklich; ich weiß gar nicht, wie geht man mit so einem Tag um. Ist er wie jeder andere Tag, nur etwas anders? Soll ich jetzt wirklich einfach arbeiten? Sie erinnerte sich daran, dass sie in der zweituntersten Schublade ihres Rollcontainers noch eine halbe Schachtel Marlboro versteckt hatte, und zündete sich ihre erste Zigarette seit zwei Jahren an. Dann zog sie langsam ihren Block aus der Tasche, legte ihn auf den Schreibtisch und klinkte Samsons Memory-Stick in den USB – Anschluss ihres Computers ein.
    Ja, sie würde arbeiten. Und sie würde vor allem vorarbeiten. Sie würde sich von Erlinger und den anderen beiden nicht diktieren lassen, was sie aufschrieb. Sie würde den Trakt der Drei Fragezeichen erst mit einem fertigen Manuskript betreten.
    ***
    Erst als Sumaya spät am Abend erschöpft in Minas Armen lag, konnte sie weinen, zum ersten Mal an diesem Tag. Sie weinte in lang gezogenen, heiseren Stößen, jeder einzelne so endgültig, als müsste sie danach nie wieder einatmen. Sie saß, ihren Stuhl dicht an den ihrer Mitbewohnerin gerückt, die Arme um Mina gelegt, auf dem gemeinsamen Balkon, und die Tränen rollten über ihre Wangen, tropften auf ihre Bluse und benässten auch Minas Wangen, während über den Dächern um sie herum die blaue Dämmerung der einsetzenden Nacht wich. Es darf nicht sein. Es kann nicht sein.
    Langsam strich ihre Mitbewohnerin ihr über die Haare. »Ganz ruhig, Susu, ganz ruhig.«
    Aber da war keine Ruhe, nirgends. Da waren Bilder. Die Kinder. Das Blut. Und da war Schmerz. Ihr eigener Schmerz. Fadias Schmerz. Sie sah Samson wieder vor sich, seinen versteinerten Blick, auch er hatte nicht gewusst, was er sagen sollte.
    Da war Fadis Stimme am Telefon, die ihr plötzlich wieder in den Ohren klang. Dieses Zittern, das sie an ihm nicht kannte. »Fadi, bitte ruf meinen Vater an.«
    »Mach ich, Habibti, mach ich.«
    Dann erschienen ihr wieder die Kinder. Und Fadia. Vor allem Fadia: die Augen aufgerissen, voller Unglauben, der Mund tonlos schreiend. Dann, wie sie zusammenbrach. Wie sie auf den Knien auf dem Teppich landete, den Kopf auf den Boden schlug, sich wand wie ein wundes Tier. Wie sie sich langsam wieder aufrichtete, wie sie erst stöhnte, und ihr schließlich, endlich ein gellender Schrei entfuhr, laut wie tausend Sonnen, lang wie das Ende der Welt: »Neeeeeein!«
    Sie sah Fadias Handy unter den Tisch rutschen. Sie sah sich selbst, wie sie Fadia ansah, erstarrt, und wie erst Sekunden später in ihrem Hirn ankam, was Fadia gerade

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