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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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des Moments selbst und der Minuten danach.
    Hatte es sie irritiert, dass sie mitten im Schreiben eine rot und in Versalien geschriebene Eilmeldung auf den Rechner bekommen hatte, derzufolge Lutfi Latif, MdB, Grüne laut Mitteilung der Charité »seinen Verletzungen erlegen« war? Ja. Natürlich. Zwei Minuten lang, eine kleine, gestohlene Ewigkeit. Zwei Minuten, die sie in stiller, tränenloser Trauer am Fenster verbracht hatte, den Blick in den Innenhof gerichtet, wo es nichts zu sehen gab. Rein gar nichts. Aberdann war sie an den Schreibtisch zurückgekehrt, um ihn ein weiteres Mal sterben zu lassen, schließlich war sie dabei gewesen, doch sie tat es mit dem Vorsatz, ihm dabei gerecht zu werden, wenn das möglich war und was auch immer das hieß, wenn man beschreiben soll, wie jemandes Blut das blaue Hemd besudelt.
    Aber da war ja noch die andere Passage, in der sie Lutfis Umgang mit der Gefahr beschrieb. Wo sie sein Obama-Lächeln strahlen ließ, seine mit tiefem Wissen gepaarte Heiterkeit, seinen Optimismus, seine Pläne und seinen Ehrgeiz. Woher sie das alles wusste und diese Seiten an ihm kannte? Sie wusste es nicht und sie kannte sie nicht. Sie verließ sich auf ältere Porträts in anderen Zeitungen und Magazinen. Sie hatte außerdem mit ein paar Fraktionskollegen des Verstorbenen telefoniert, »souverän« hatten die ihn genannt, »überlegt und den meisten auch überlegen«. »In der Ruhe liegt die Kraft«, beschrieben sie ihn. »Der hatte den ganz langen Atem«, sagte einer. »Vielleicht der wichtigste Quereinsteiger, den es in der deutschen Politik je gab«, hatte ihr die Fraktionsvorsitzende der Grünen in den Block diktiert. Merle hatte zusätzlich frühere TV – Auftritte von Lutfi Latif auf YouTube angeschaut, um ein Gefühl für seine Argumentationsmuster zu entwickeln, für seine Gestik, seine Mimik, seine Art von Humor.
    Während Lutfi Latif in der Charité mit dem Tode rang, hatte sie ihn gewissermaßen kennengelernt. War das pervers? Ja. Und trotzdem: Sie war zuversichtlich, dass ihr Porträt stimmig geraten war, eine Annäherung, natürlich, keine letzten Gewissheiten, ihre Zweifel an sich selbst klangen durch. Und zum Umgang des Abgeordneten mit der Gefahr: Nun ja. Sie wusste, dass er keinen Personenschutz gewollt hatte. Sie wusste, dass er stattdessen Samson engagiert hatte. Natürlich tauchte Samson in ihrer Zulieferung nicht auf. Aber sie nutzte ihr privilegiertes Wissen, um zu schreiben, dass Lutfi Latif natürlich nicht völlig sorglos gewesen war. Dass er aber, Intellektueller, der er war, die Gefahr erst einmal hatte verstehen wollen. Und das war doch die Tragik an seinem Tod: Dass ein Mann, der Ruhe und Besonnenheit in eine allzu oft allzu aufgeregte Debatte bringen wollte, in seinem eigenen Fall ausgerechnet daran gescheitert war, zuerst nachzufragen und dann zu entscheiden.
    Und dann der schwierigste Teil ihrer Zulieferung: Der, den dieDrei Fragezeichen niemals bestellt hatten. Das Kuckuckskind, das sie Erlinger und Co. ins Nest zu schmuggeln versuchen würde: Wer hatte Lutfi Latif ermordet?
    Sie hatte das Video, das Samson ihr zur Verfügung gestellt hatte, den Drei Fragezeichen selbstverständlich überlassen. Es war klar, dass es Bestandteil der Geschichte sein musste. Aber wie war es mit den Zweifeln an dessen Echtheit? Mit Samsons Zweifeln, um genau zu sein. Mit Samsons extrem vorsichtigen Zweifeln, um noch genauer zu sein. Es ist ein Gefühl. Samson, der die Drei Fragezeichen hasste – und die ihn hassten, weil sie ihn besserwisserisch fanden, was er manchmal war, und weil er ihnen regelmäßig Geschichten »zerschrotete«, indem er über sie bloggte, bevor der Globus erschien, was sie jedes Mal maßlos ärgerte. Samson, der sich tatsächlich noch einmal bei ihr gemeldet hatte, vor zwei Stunden, wahrscheinlich hatte auch er die Nacht durchgearbeitet, ein Glas Whiskey vor sich und drei Tastaturen im Parallelbetrieb. Vorläufiges Ergebnis, laut seiner anredelosen, zwei Zeilen langen E-Mail: »Sei vorsichtig. Ich hab nichts Hartes. Aber Zweifel bleiben.« Was sollte sie damit anfangen?
    Und dann war da noch ihre eigene Scharte, die sie auswetzen wollte. Die ausgewetzt werden musste. Oder etwa nicht? Oder sollte die Welt etwa nicht erfahren, dass Lutfi Latif keineswegs nur von Islamisten bedroht worden war, wie eine gewisse Merle Schwalb es alle Welt hatte glauben lassen, wofür sie seit gestern früh in allen Medien von Rio über Kapstadt bis Beijing zitiert wurde, sondern auch

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