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Radikal

Radikal

Titel: Radikal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yassin Musharbash
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gibt es gar keine Mitgliedschaft. Vielleicht wissen sie auch nur, dass die Verteidiger des Abendlandes angefangen haben, sich zu formieren. Samson, mal angenommen , die Munkelmanns stecken hinter der Bombe, o.   k.? Und damit das Kommando, o.   k.? Das würde immer noch nicht automatisch bedeuten, dass diese Leute, von denen ich rede, das wissen .«
    »Ich verstehe.«
    »Ich muss weg. Wir können uns nicht mehr sprechen. Wenn überhaupt, dann melde ich mich, klar?«
    »Klar. Danke, Kai!«
    Kai drückte ihm unauffällig ein 50-Cent-Stück in die Hand.
    »Schmeiß was rein, wenn du in zwei Minuten gehst, sonst wundert er sich, warum du fünf Minuten hier herumgestanden hast. Dein Handy kannst du in einer Stunde abholen. Nicht früher. Sonst sieht dich derselbe Rezeptionist zweimal, das muss nicht sein. Das Schließfach läuft auf Zimmer 927, wo du gestern übernachtet hast, wie du dich jetzt sicher erinnerst, Herr Dr. Gert Hasel.«
    Als hätten sie nie nebeneinandergestanden, sondern sich nur zufällig kurz gestreift, stob Kai ansatzlos an ihm vorbei zum U-Bahn-Gleis, und ohne sich noch einmal umzudrehen, stieg er in einen abfahrbereiten Zug Richtung Ruhleben.
    ***
    Um zwölf Uhr mittags hatte Merle Schwalb ihre Zulieferung per E-Mail an die Drei Fragezeichen geschickt. Um halb eins hatte die Sekretärin des Nicht-Ressorts »Besondere Recherchen« sie angerufen und ihr ausgerichtet, dass »die Herren jetzt bereit wären«. Merle war so müde, dass ihre Lider zuckten. Sie hatte die ganze Nacht durchgearbeitet, unterbrochen nur von zwei jeweils zwanzig Minuten langen Pausen, die sie, nachdem sie die angelehnte Tür geschlossen hatte, unter ihrem Schreibtisch liegend verbracht hatte, einmal um drei Uhr nachts und dann noch einmal um sechs Uhr früh, als sie bemerkt hatte, dass gleich die Sonne ihr Büro erhellen würde und jetzt die letzte Gelegenheit wäre, im Dunkeln einzunicken, wenn sie die Neonlampe ausschaltete.
    Sie war nicht die Einzige, die die Nacht in der Redaktion verbracht hatte. Soweit sie es mitbekommen hatte, waren die meisten geblieben, die ganze Nacht hindurch waren Füße an ihrem Büro vorbeigetrippelt, hatte sie das leise Schluchzen und Jaulen des Kopierers gehört und das asthmatische Röcheln der Drucker in den Zellen nebenan.
    Morgens um sieben hatte Kaiser geklopft und ihr eine Pappschachtel mit einem Apfel, einem Thunfisch-Ei-Sandwich, einem Trinkpäckchen Orangensaft und einem Snickers-Riegel gebracht. »Das dritte Geschlecht hat in einem der Hotels nebenan Frühstück für alle bestellt«, sagte er. »Bitte schön. Alles in Ordnung bei dir?«
    »Ja, danke. Und bei dir?«
    »Ach, ich hab eigentlich nicht viel zu tun. Ich hab Totenwache.«
    Totenwache – das war der Terminus für den Redakteur, der in der jeweiligen Woche die traditionellen sechs Seiten am Heftende des Globus mit Nachrufen füllen musste, außer wenn ein Fachredakteur sich berufen fühlte, ihm einen abzunehmen.
    Merle bemerkte, dass sie irritiert geguckt haben musste.
    Jedenfalls warf Kaiser in nur halb gespielter Abwehr beide Händevon sich. »Ja, ich weiß, das klingt bescheuert. Alle haben mit dem Anschlag zu tun, 14 Tote, und ausgerechnet die Totenwache ist praktisch arbeitslos. Na ja, wenigstens hat es sich gelohnt, dass ich geblieben bin, sozusagen. Ich habe gerade meinen Nachruf für Martha Sinn fertig.«
    »Wer ist Martha Sinn?«
    »Muss man nicht kennen. Ist die Ehefrau des Berliner Innenstaatssekretärs. Hat sich offenbar gestern Abend das Leben genommen.«
    »Oje.«
    »Ja, ist immer schwierig, über Suizid zu schreiben. Man weiß nie, was die angemessene Formulierung ist.«
    »Apropos …«
    »Klar, verstehe. Ich wollte dich nicht stören. Nur das Frühstück bringen. Bis später!«
    »Danke, Kaiser!«
    Sie war so müde gewesen, dass ihr nicht mal sein Vorname eingefallen war.
    Ihre Zulieferung war gut. Jedenfalls soweit sie das in ihrem Zustand überhaupt noch beurteilen konnte. Sie hatte drei einzelne Texte geschickt, damit die Drei Fragezeichen sie an den jeweils passenden Stellen in die Titelgeschichte, deren genaue Dramaturgie sie nicht kannte, einpassen konnten. Eine lange Passage beschrieb den Anschlag anhand der Notizen, die sie unter Schock in der Siegfried-Passage aufgeschrieben hatte. Sie hatte sich nicht gestattet, sich noch ein weiteres Mal vor sich selbst zu ekeln oder für ihr Verhalten zu schämen. Nicht jetzt. Sie musste funktionieren. Und sie hatte funktioniert. Es war eine dichte Schilderung

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