Radio Miracoli und andere italienische Wunder
denkendes, fühlendes Wesen. Als es dämmert, verabschieden sich Walzer, Menuette und Triumphmärsche, und an ihrer Stelle steigen die langsamen, herzzerreißenden Klänge von Bratschen und Violinen in den frühmorgendlichen Himmel.
» Suite Nummer 1, Opus 46 … Grieg«, erklärt Vito mir.
Eine der jungen Frauen seufzt und legt sich mit ausgebreiteten Armen auf die Erde. Ihr Freund und die beiden Freundinnen tun es ihr gleich. Alle verstummen, bis nur noch die Streichinstrumente und das Prasseln des Feuers zu hören sind. Langsam kehren wir ins Haus zurück, auch wenn es uns schwerfällt, uns von diesem Schauspiel loszureißen.
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Nachdem wir unseren Gästen noch lange nachgewunken haben, versammeln wir uns in der Küche zu einer Manöverkritik. Letztendlich war unser Debüt erfolgreich. Die jungen Leute waren fast gerührt, als sie sich mit herzlichen Umarmungen und dem Versprechen von uns verabschiedeten, uns ihren Freunden zu empfehlen und im Frühjahr wiederzukommen. Was das Problem mit der vergrabenen Giulia betrifft, so fühlen wir uns alle ein wenig sicherer. Schließlich kann die Batterie nicht ewig halten, und außerdem haben sich unsere Befürchtungen als reichlich übertrieben erwiesen. Jedes Lügenmärchen klingt immer noch wahrscheinlicher als die Wahrheit.
Wir schwelgen in Erinnerungen an den Erfolg des Silvesterabends, und dann sehe ich mich auf Drängen der Allgemeinheit gezwungen, die Legende zu wiederholen, die ich mir aus den Fingern gesogen habe. Da auch Abu, der von der ganzen Sache nichts weiß, unter den Zuhörern ist, beschließe ich, die Geschichte in aller Ausführlichkeit zu erzählen.
»Mario war ein angehender Dirigent, der nichts besaß außer einem großen Talent, Giulia eine junge Adelige. Seit Jahren waren die beiden einander in heimlicher Liebe zugetan, die im Wesentlichen aus ein paar wenigen, verstohlenen Treffen und der Musik bestand, die Mario jede Nacht zu den Fenstern der Geliebten emporschickte. Doch schon bald wurde Giulia mit einem grobschlächtigen und tyrannischen Großgrundbesitzer vermählt, der sie wie eine Sklavin hielt. Der ständigen Misshandlungen müde und in der Hoffnung, ihre einzige Liebe erneut in die Arme schließen zu können, erstach Giulia ihren Ehemann im Schlaf, wurde aber, ehe sie fliehen konnte, ihrerseits von dessen Brüdern ermordet und landete in der Hölle. Der verzweifelte Mario, der von sanftem Gemüt war und noch nie einer Fliege etwas zuleide getan hatte, tötete zuerst die Brüder des Ermordeten, um seiner Geliebten in die Hölle folgen zu können, und dann sich selbst. Am Ort der Verdammnis angekommen, musste Mario jedoch feststellen, dass seine Geliebte sich dort nicht mehr befand. Denn als diese das Messer in den Leib ihres schlafenden Gatten getrieben hatte, war der bereits tot, dahingemetzelt von der Hand eines seiner Brüder. Seit jenem Augenblick vertraut Mario beinahe jeden Tag seine Musik der Erde und dem Wind an in der Hoffnung, dass die Klänge seine Geliebte im Himmel erreichen mögen.«
Abu applaudiert. Mein Szenario hat ihn restlos überzeugt. Elisa wirft mir abermals einen ungläubigen Blick zu, die anderen lächeln und schütteln den Kopf.
»Mario und Giulia?«, fragt Fausto.
»Ich weiß, ich weiß, aber die Namen mussten mir ja sofort einfallen … da war ich noch nicht warmgelaufen«, erkläre ich.
»Unglaublich, dass sie das geglaubt haben.«
»Es ist doch nur eine Legende, und wenn man sie ein bisschen ausschmückt, ist sie gar nicht mal so schlecht.«
»Sie ist zum Kotzen!«
»Aber sie hat bestens funktioniert. Ich würde sogar sagen, dass wir sie auf die Website stellen und veröffentlichen sollten«, meint Elisa.
»Mario und Giulia …«, wiederholt Fausto. »Kein Komponist heißt Mario.«
»Auch nicht Giuseppe, und trotzdem …«, erwidere ich.
»Und trotzdem?«, fragt er.
»Nichts, gar nichts …«
Leider ist die gute Stimmung rasch verflogen und hält gerade mal so lange an, wie wir brauchen, um Kassensturz zu machen. Wir haben siebenhundert Euro eingenommen, werden aber in wenigen Tagen dreitausend Euro für die erste Rate des Schutzgeldes abdrücken müssen. Im Moment liegt nicht eine einzige Reservierung vor, und realistischerweise können wir bis Ostern nicht auf große Einnahmen hoffen.
»Vito, glaubst du, dass wir sie bitten können, bis nach Ostern zu warten?«, fragt Fausto.
»Willst du wissen, was ich dir rate?«, antwortet Vito.
Der Alte erhebt sich von seinem Stuhl und marschiert an uns
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