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Radio Miracoli und andere italienische Wunder

Radio Miracoli und andere italienische Wunder

Titel: Radio Miracoli und andere italienische Wunder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Bartolomei
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sturzbesoffen oder aber bis zur Nasenspitze zugedröhnt sein. Keinen halben Meter von mir entfernt geht er an dem Kipplaster vorbei. Unsere Blicke kreuzen sich, aber seiner ist leer und abwesend.
    »Haste mal ’ne Zigarette?«, lallt er.
    Er versucht, stehen zu bleiben, stolpert und verliert das Gleichgewicht. Um nicht der Länge nach hinzuschlagen, verfällt er in einen komischen Trab, der ihn von unserem Lastwagen wegführt. Erst an der Haustür gelingt es ihm, abzubremsen. Dort sinkt er entkräftet zu Boden, nicht jedoch ohne sich vorher übergeben zu haben. Sergio lässt rasch den Motor an und fährt die Kippbrücke zurück. Jetzt haben die Vorderräder endgültig wieder Bodenkontakt, und ich kann von der Stoßstange herunterspringen. Ich laufe nach hinten, um auch den zweiten Riegel der Heckklappe zu öffnen, gebe Sergio ein Zeichen, und mit einem Getöse, das ich in dieser Lautstärke nicht erwartet habe und das mich erschreckt, poltern Waschmaschinen, Waschbecken und Kühlschränke heraus.
    »Lass die Luft aus dem Reifen!«, ruft Sergio mir durch das Fenster zu.
    Mit metallischem Dröhnen rutscht der letzte Rest der Ladung nach.
    »Der Reifen!«, brüllt Sergio erneut.
    Ich sehe, dass in den Häusern ringsum die ersten Lichter angehen, und zögere verwirrt. Als ich endlich auf den Lieferwagen zulaufe, kniet Claudio bereits vor einem Vorderreifen. Ich kehre wieder auf den Laster zurück, und einen Augenblick später springt auch Claudio in das Führerhaus. Sergio gibt Gas und lässt im Fahren die Kippbrücke herunter. Reglos und konzentriert verharren wir, bis wir zu der Abzweigung auf die Hauptstraße kommen.
    »Ja! Ja! Wir haben es geschafft! Hast du den Haufen Scheiße gesehen, den wir ihnen vor die Füße gekippt haben? Spitze!«
    Sergio hängt mit vor Müdigkeit geröteten Augen über dem Steuer. Hin und wieder stößt er Gelächter oder einen Fluch aus. Auch ich grinse, aber ich kann unseren Sieg erst so richtig genießen, nachdem wir den Kipplaster zurückgegeben haben und in unserem Renault auf dem Nachhauseweg sind. Als Friedensangebot an Sergio nach unserem Streit stimme ich aus vollem Hals in Bella Ciao und Bandiera rossa mit ein. Wir versuchen, auch Claudio zu animieren, aber er starrt mit einem seltsamen Lächeln auf dem Gesicht aus dem Fenster.
    »Ich habe die Luft aus dem Reifen gelassen, Mensch … ich habe die Luft aus dem Reifen gelassen«, murmelt er vor sich hin.

64
    Fausto, Vito und Elisa erwarten uns bereits an der Haustür. Sie platzen vor Ungeduld. Triumphierend recken wir die Fäuste zum Fenster hinaus, und sie antworten uns mit derselben Geste. Ich hole mein Handy aus der Tasche und mache ein Foto von Fausto.
    Da wir seit mehreren Stunden nichts mehr gegessen haben, fallen wir wie die Wölfe über eine Stange Weißbrot mit Schinken her. Wir sind vollkommen übermüdet, und der Wein löst wilde Lachanfälle bei uns aus. So etwas ist mir bisher nur zwei- oder dreimal im Leben passiert. Wir haben so viel zu berichten: Von unserer Ankunft auf leisen Sohlen, unserem Streit, dem Kipplaster, der plötzlich Flügel bekam, meiner Kletterpartie, dem zugedröhnten Junkie, der eine Zigarette von mir schnorren wollte, dem Lärm, mit dem sich der Müll entlud, und von unserer Flucht. Besonders heben wir natürlich Claudios Heldentat hervor, der sich erst nach langem Bitten und Betteln dazu bewegen lässt, die Episode mit dem Autoreifen zu erzählen. Ungeduldig fallen wir uns gegenseitig ins Wort und nehmen einander die besten Pointen weg. Während ich Sergio zuhöre und kaum an mich halten kann, ihn nicht ständig zu unterbrechen, muss ich mir eingestehen, dass er in gewisser Weise durchaus recht hatte. Jetzt hätte ich gerne den Geruch nach Tränengas in der Nase, hätte gerne den Striemen eines Schlagstocks vorzuweisen gehabt. Du sprichst nie über dich. Das bekomme ich oft von den Frauen zu hören, die sich angezogen fühlen von dem Nimbus des Geheimnisvollen, der mein Schweigen umgibt. In Wahrheit rede ich deswegen nicht über mich, weil ich in den letzten zwanzig Jahren zu viel ferngesehen habe.
    Als ich an der Reihe bin, meinen Teil der Geschichte zu erzählen, und die aufmerksamen Blicke meiner Zuhörer sehe, begreife ich, warum ich nie viele Freunde hatte. Eine Freundschaft lebt von Geschichten, von gemeinsam überstandenen Abenteuern, von Anekdoten, die einen an einen Tisch fesseln und immer wieder aufs Neue Gelegenheit bieten, darauf anzustoßen. Wir können gar nicht mehr aufhören zu

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