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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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einen Grünschnabel, der eine Single aus der Hülle gezuppelt hatte
     und versuchte, sie unter seinem Pulli zu verstecken. Komisch. Ich legte
Running On Empty
auf und versuchte herauszubekommen, warum meine Gedanken von den grünen Augen, den kurzen schwarzen Haaren und den Formen
     im weißen T-Shirt nicht mehr loskamen.
    |48| Am nächsten Tag kam sie wieder.
Natürlich
kam sie wieder. Ich war nicht überrascht, nur enorm erfreut, wie ich feststellte. Glücklich, um genau zu sein.
    Dann holte sie Jackson Brownes Meisterwerk aus ihrem Jutebeutel und legte es auf den Tresen. Mein Herz zuckte, und ich wurde
     vielleicht sogar blaß.
    Sie sah mich an, so direkt, mitten in die Augen. »Ich hätte gerne ein neues Exemplar. Tolle Platte.«
     
    Dann folgte ein sehr seltsamer Dialog, dessen Zweck war, eine Verabredung zu treffen. Was mich betraf, weiß ich, warum ich
     Schwierigkeiten hatte, den Vorschlag auszusprechen. Ich hatte null Erfahrung, und ich hatte panische Angst, wußte nichts davon,
     wie man mehr als vier, fünf Minuten mit einem weiblichen Wesen verbringt, mit dem man nicht verwandt ist, und noch weniger
     darüber, wie sich Kontaktformen entwickeln, die über das Sprechen hinausgehen, küssen etwa, umarmen, diese Sachen; kein Gedanke
     an Sex, ehrlich nicht. Aus irgendeinem Grund hatte sie ganz ähnliche Probleme. Wie sich später herausstellte, hielt sie mich
     einfach für unglaublich cool, wie ich so dastand, in dem Laden voller Platten und im gleichen T-Shirt wie gestern. Mit viel
     Gezappel schafften wir es schließlich, uns für den frühen Abend in einer Teestube zu verabreden, und als sie gegangen war,
     kam ich mir vor, als wäre ich soeben auf einem fremden Planeten gelandet, einem Planeten voller unbekannter Gefahren, voller
     Freude, einem Planeten, von dem es kein Zurück gab: Der Planet hieß Erwachsensein. Oder so.
     
    Das
Tee-à-tête
war legendär zu dieser Zeit, ganze Heerscharen von Oberstüflern fielen am Nachmittag in diesen mikroskopisch kleinen Laden
     ein, dessen fahriger, leicht desorientiert wirkender Besitzer – er hatte viele Gemeinsamkeiten mit meinem »Chef« Rudi – Millionen
     Sorten Tee kredenzte, in Tonkannen, mit winzigen Tontäßchen, die beim Umrühren ganz fürchterliche Kratzgeräusche machten,
     mit stilechtem |49| Tonstövchen für jeden Tisch, im Regal ein Stapel Spiele wie »Malefiz« und die recht junge
taz
als Zeitung zum Fürjedenlesen, ziemlich radikal – damals. Ich fühlte mich gleichzeitig wohl und unwohl; die Wohnzimmeratmosphäre
     und die akribische Unordnung gefielen mir gut, aber die uniformierten Teenager-Cliquen riefen ungute Erinnerungen wach. Nach
     der Schulzeit hatte ich den Laden nicht mehr besucht, und auch währenddessen nur im Ausnahmefall. Jetzt saß ich an einem wackligen
     Tisch, den ich gegen kettenrauchende Zehntkläßler verteidigen mußte, nippte am Wildkirschtee und wartete auf grüne Augen,
     viel zu alt für mich, was heißt,
für mich
, ich wußte ja nicht genau, was das Mädchen von mir wollte. Ich war insgesamt ein bißchen panisch. Und überfordert. Ich hatte
     keine Ahnung, wie ich sie begrüßen sollte. Handschlag, entschied ich nach langem Für und Wider. Sie wußte nicht einmal meinen
     Namen. Oder ich ihren.
    Aber sie kam nicht. Zehn nach, fünfzehn nach, zwanzig nach. Ich bestellte meine zweite Kanne Wildkirschtee, spürte Harndrang,
     beobachtete den sich niemals auflösenden Kandiszucker ohne genau zu wissen, warum
genau
ich eigentlich so zapplig war, und traute mich nicht, zum Klo zu gehen, aus Angst, sie würde in exakt diesem Moment kommen.
     Also blätterte ich in einem mitgebrachten Leihbuch über amerikanischen Radiojournalismus, schwor mir, bei der ersten Seite,
     die mit einem Vokal begann, auf Toilette zu gehen, bis ich eine Hand auf meiner Schulter spürte, just in dem Augenblick, als
     ich auf eine Seite blätterte, die mit »Als« anfing.
    »Hi, tut mir leid. Hab’ den Bus verpaßt.«
    Ich wollte etwas antworten, konnte aber nicht, weil sie mich auf die Wange küßte. Zum ersten Mal in meinem Leben küßte mich
     eine Frau, die nicht meine Mutter, Schwester, Tante oder so was war. Es kribbelte, ich bekam eine Gänsehaut, wurde ganz sicher
     rot und blickte verstört in das unglaubliche Gesicht.
    »Hi«, antwortete ich zögernd. »Halb so schlimm.« Sie hieß Lydia, wurde von ihren Freunden Liddy genannt, |50| was sie nicht besonders mochte, aber immerhin noch mehr als ihren richtigen Vornamen, der ihrer

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