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Radio Nights

Radio Nights

Titel: Radio Nights Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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nach England. Ein Strafprozeß wegen irgendwas, das Jahre
     zurücklag. Lindsey hatte einen amerikanischen Soldaten als Ersatz aufgetrieben, einen, der bei
AFN
gearbeitet hatte und in Berlin bleiben wollte, schließlich brauchten wir die Army nicht mehr.
     
    Ich dachte an den Abend, an dem ich entdeckt hatte, daß sie auf den Strich ging. Auf den Strich gehen. Niemand sagte das.
     Am allerwenigsten Veronika. Ich versuchte, sie mir vorzustellen, so, wie sie da ausgesehen hatte, aber die Bilder aus der
     Kindheit waren stärker. Aus der Zeit, bevor ich sie verloren hatte, und sie sich selbst. Ach, Quatsch. Sie hatte es vielleicht
     nicht gerne gemacht, jedenfalls nicht immer, aber sie hatte die Entscheidung ziemlich bewußt getroffen. War nicht
reingerutscht
, wie in einem billigen Film. Nein, Veronika war absichtlich Nutte geworden. So, wie andere KFZ-Mechaniker werden. Oder Radiomann.
     Ich weinte wieder, und dann ging es mir langsam etwas besser.
     
    |99| Ich brachte auch die Sendung irgendwie hinter mich, ohne große Katastrophen, sogar ohne kleine. Vielleicht nicht so witzig,
     so schlagfertig, so interessant wie sonst. Als ich um fünf das Studio verließ, war die Station schon voll. Ich zog den Kopf
     ein, schüttelte ihn, wenn mich jemand ansprach, und flüchtete, ignorierte die Handvoll Fans, die um
fünf Uhr montagmorgens
vor dem Sender standen, um mich zu sehen, zu sprechen. Als ich um halb sechs aus dem Taxi stieg, sah ich, daß im
Irish Heaven
noch Licht brannte. Das Herz ging mir auf, ich war froh, froh, froh.
     
    Miles saß alleine am Tisch, ein Bier vor sich und ein halbvolles Glas Wein. Es lief irische Musik, relativ leise, sonst war
     der Laden leer. Er strahlte mich an, winkte, als hätte er mich aus einer großen Menschenmenge heraus entdeckt. Ich nickte,
     strahlte aber nicht, fühlte mich ausgepowert und hatte einfach Angst, nach Hause zu gehen, war richtiggehend glücklich, daß
     er noch hier saß. Ich wäre noch ins
Pandemonia
geschlurft, vielleicht, das war zwar ein abscheulicher Laden, aber rund um die Uhr geöffnet.
    Er kam auf mich zu, umarmte mich kurz, ging dann zum Tresen, um mir ein Bier zu zapfen. Ich setzte mich an den Tisch, vor
     das Weinglas. Miles trank keinen Wein, niemals, er war schließlich
Ire
. Ich zog die Stirn kraus, dann sagte jemand: »Das ist aber mein Platz« in ziemlich gebrochenem Deutsch. Na klar, die Tochter.
     Ich blickte auf.
    »Alicia, meine Tochter, Donald, ein Freund von mir. Ich habe dir von ihm erzählt.« Miles sagte das, in englisch, mit großem
     Stolz,
beides
, das mit der Tochter
und
das mit dem Freund, stellte das Red vor mir auf den Tisch, ich rutschte einen Stuhl weiter, starrte die junge Frau an, die
     sich jetzt auch setzte.
    »Hallo«, brachte ich heraus, nahm einen guten Schluck Bier.
    »Hallo«, antwortete sie. Sie hatte lange, leicht gelockte, schwarze Haare, ein eckiges, aber weiches Gesicht, einige |100| wenige Sommersprossen um die Nase herum, und Augen zum Drangewöhnen: Ein Blau in etwa wie das des Atlantik, wenn man kurz
     vor dem Sonnenuntergang von den Klippen am Punto San Vincence hinunterschaut. Leuchtend und gleichzeitig dunkel. Und eine
     nette Stimme.
    Außerdem sah sie Liddy irgendwie ähnlich.
     
    Wir saßen eine Weile, ich hörte den beiden zu, Miles’ hartem Englisch mit dem schweren irischen Einschlag, Alicias sanfter
     Stimme. Ab und zu holte ich mir ein neues Bier, es wurde hell draußen, und dann erzählte ich irgendwann von Veronika. Wir
     redeten, ich redete, und dann wurde es Zeit, der Straßenlärm wurde lauter, wir trennten uns, und ich fühlte mich deutlich
     besser.
     
    Die folgenden paar Tage vergingen wie im Tran. Meine Mutter meldete sich glücklicherweise nicht noch einmal, ich hätte auch
     sofort wieder aufgelegt.
Beerdigung
. Sicher würde Veronika irgendwie irgendwo beerdigt werden. Genauso sicher würden meine Eltern dort sein. Oder? Ich dachte
     an Rudis Beerdigung, diese trost-und eigentlich ja auch sinnlose Veranstaltung, mehr Inhumierungen hatte ich bis dato noch
     nicht erlebt, dreimal auf feuchtes Holz geklopft. Einen Moment lang überlegte ich, meine Mutter anzurufen, aber dann beschloß
     ich, einfach nicht zur Beerdigung zu gehen. Ich wollte mit meiner Trauer alleine sein, erst mal, und sie sicher nicht mit
     meinen abgefuckten Eltern teilen. Veronika hätte das verstanden. So eine Scheiße. Veronika hätte ja auch mit mir reden können,
     bevor sie sich die Kante gab mit Alk und Pillen, oder

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