Radio Nights
was immer sie getan hatte, um sich umzubringen.
Während der Donnerstagssendung bekam ich einen komischen Anruf.
»Harald Meinert, Tach«, sagte jemand. Vorgespräch, nicht live, zwischen den Platten. Die meisten hatten nur sinnlose |101| Plattenwünsche, die ich nie erfüllte, oder wollten einfach hallo sagen, persönlich ihrer Begeisterung Ausdruck verleihen.
Wenn ich jeden Anrufer, der zu mir durchgestellt wurde, in die Sendung genommen hätte, hätte das Ding
Tagundnachtratten
geheißen, irgendwann.
»Hallo, Donald Kunze, was kann ich für dich tun?« fragte ich, wie immer.
»Ich bin von der
B.Z. «
– der
BILD
-Variante für Berlin.
»Oh. Toll. Was kann ich für Sie tun?« variierte ich meine Frage.
»Ihre Schwester war Veronika Kunze, die am Samstag gestorben ist, richtig?«
Einen Moment lang war ich verdattert, sogar ein bißchen erschüttert. Die Platte hatte noch zwanzig Sekunden.
»Moment mal, ich muß arbeiten«, sagte ich und schaltete den Anrufer weg. Ich moderierte die nächste Platte an, sagte etwas
über einen Taxifahrer, der in der vergangenen Nacht angerufen und sich beschwert hatte, daß ihn die Sendung von der Arbeit
abhielt – er verpaßte beim angestrengten Zuhören den Melder am Taxistand. Dann startete ich den nächsten Titel und überlegte
einen Moment. Was sollte das denn jetzt? Zeitung? Weil Veronika gestorben war?
Ich schaltete den Anrufer zurück auf meinen Kopfhörer. Da es im Studio absolut still war, konnte mich der Mann nicht hören,
aber es gab kein Hintergrundgespräch, kein Getuschel mit irgendwem, schade eigentlich.
»Hallo, Herr Meinert«, sagte ich nach einer kleinen Weile.
»Oh, hallo.« Kleine Pause. »Sind Sie der Bruder?«
»Ja. Warum?«
»Mein herzliches Beileid.« Lange Pause, ich sparte mir ein
Danke
. Er wollte offensichtlich, daß ich etwas sagte. Als ich das nicht tat, fuhr er fort: »Heute … nein, gestern war die Beerdigung.
Würden Sie mir verraten, warum Sie nicht dort waren?«
Ich wollte »Was geht Sie das an?« antworten, verkniff es mir aber. Statt dessen ließ ich ein wenig Zeit vergehen und |102| antwortete dann: »Ich gehe grundsätzlich nicht auf Beerdigungen. Niemals.«
»Mmh.« Hörte ich Notizblockgekritzel? Nee, oder?
»Warum wollen Sie das wissen?« fragte ich.
»Na ja, Sie sind ein bekannter Mann in der Stadt. Unsere Leser interessiert, wie Sie zum Tod Ihrer Schwester stehen. Würden
Sie mir das verraten?«
»Was ist das für eine Frage?« ließ ich hören, etwas harsch. Die Platte ging zur Neige. Ein Zweiminutenzwanzig-Stück.
»Moment noch mal«, bat ich, wieder etwas höflicher.
»Wo waren wir stehengeblieben?« dreißig Sekunden später.
»Wie Sie zu Ihrer Schwester stehen.«
»Hatten Sie nicht gefragt, wie ich zum
Tod
meiner Schwester stehe?«
»Ja, das auch. Macht es Ihnen nichts aus, die Sendungen zu machen, kurz nach dem Tod Ihrer Schwester?«
»Mmh. Tut mir leid, ich möchte dieses Thema einfach nicht mit Ihnen diskutieren. Seien Sie mir nicht böse deshalb, okay?«
Ich legte auf und war ärgerlich, für den ganzen Rest der Nacht.
Am übernächsten Tag, also am Freitag, erschien auf irgendeiner hinteren Seite der
B.Z.
ein kurzer, aber übler Artikel, Tenor »Dem Star-DJ geht der Tod seiner Nuttenschwester am Arsch vorbei«, mit wenig subtilen
Anspielungen darauf, daß ich auf der Sonnenseite des Lebens stand, während meine verstorbene Schwester anschaffen mußte. Vögler
kam in mein Büro und hielt mir die Zeitung unter die Nase.
»Das hat man davon, wenn man berühmt ist«, sagte er. Und: »Besser, sie reden schlecht über einen als überhaupt nicht, oder?«
Sein Gesicht zeigte den üblichen Ausdruck, nämlich keinen, aber seine Augen blitzten – ein wenig diebisch.
Ich sah ihn an und konnte nicht so fürchterlich viel mit |103| seinen Bemerkungen anfangen, aber wenigstens war das Thema damit gehakt. Ich ärgerte mich auch nicht wirklich über den Artikel,
nicht mehr, es gab kein Nachspiel, keinen irgendwie gearteten Trouble in der Station, keine bösen Höreranrufe, nichts. Aber
es machte mir das Darüberhinwegkommen erstaunlicherweise etwas leichter. Suszanna kam am Freitagnachmittag ebenfalls kurz
in mein Büro, wedelte mit der Zeitung und sagte mit ungarischem Akzent: »Arsch löcher , alle.«
Was wohl stimmt. Sie schmiß das Blatt demonstrativ in meinen Papierkorb. Als sie aus meinem Büro ging, sah ich Vögler vor
meiner Tür stehen, der die
B.Z
. aufgeschlagen in der
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